18 November 1998, Hartmut Lück, Frankfurter Rundschau
Review (de)

Naturlaut und Sampler

Debütkonzert des 'Ensemble Modern Orchestra'

HANNOVER. Es paßt ja nicht schlecht zusammen: das kulturelle Vor- und Beiprogramm der Expo 2000 Hannover und das im Sommer dieses Jahres gegründete Ensemble Modern Orchestra - die Expo 2000 will technische Perspektiven für das 21. Jahrhundert und ein neues Verhältnis des Menschen zur Natur aufzeigen (hoffentlich gelingt's ...) das Ensemble Modern Orchestra hat sich vorgenommen, aus den Standards der Avantgarde des jetzt zu Ende gehenden Jahrhunderts und aus innovativen Ansätzen junger Komponisten Anstöße zu geben für eine künftige Musikkultur. Im Kuppelsaal der Stadthalle Hannover gab es zunächst eine veritable Wiederaufnahme: Schwankungen am Rand - Musik für Blech und Saiten aus dem Jahr 1975 von Helmut Lachenmann. Das kantige, streng ausgezirkelte Werk zwischen hohen Streichern, Konzertflügel, Donnerblechen und Blechbläserakzenten, behutsam verstärkt für die runde Raumform des Kuppelsaales, wurde von der neuen Formation mit geradezu körperlicher, spannungsgeladener Intensität musiziert, wozu die fabelhaft präzise, geradezu lässig souveräne Schlagtechnik des Dirigenten Peter Eötvös ihr Teil beitrug. Lachenmanns Schwankungen war ihm ein wahres Kinderspiel, als wär's die Kleine Nachtmusik Für die Premieren-Uraufführung des Ensemble Modern Orchestra hatte man den Komponisten Heiner Goebbels gewonnen, der mit Walden für erweiteretes Orchester jene eingangs zitierte Perspektive musikalisch ansteuerte: am Walden Pond in der Nähe von Concord (Massachusetts) hielt sich Henry David Thoreau in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zwei Jahre lang in einer Holzhütte auf, um ganz in der Natur aufzugehen, Pflanzen, Tiere, Landschaft und Wetter zu beobachten und die Klänge der Natur als innere Musik zu erleben. Schon Charles Ives hatte im Finalsatz seiner Concord Sonata an Thoreau erinnert: Heiner Goebbels nun näherte sich der gleichermaßen archaischen wie utopischen Vorstellung Thoreaus nicht nur durch Zitate aus dessen Buch Walden (verlesen von dem Maler und Aktionskünstler Bob Rutman), sondern durch eine räumlich-visuelle Klang-Agglomeration, die gleichsam stehende Naturlaute und Klangzeichen verband mit neuartigen Instrumenten (Bell Chimes, Daxophon u.a.), Samples aus unterschiedlichen Musikstilen, Orchesterinstrumenten und andeutenden Rock-Sounds, insgesamt eine für Goebbels erstaunlich lyrische, milde Partitur, die sich aus kritischer, auch illusionsloser Distanz dem Naturlaut (als Symbol der funktionierenden und nicht vergewaltigten Natur) nähert und sich auch wieder entfernt. Das fast einstündige Werk bietet ein immer wieder bemerkenswert vielfältiges Klang-Arrangement, läßt, wie immer bei Goebbels, alle Dogmen der Avantgarde hinter sich, aber ebenso die Beliebigkeit der sog. Postmoderne - dafür nimmt Goebbels seine Arbeit viel zu ernst, um etwa bloß 'hinterherzuhinken'. Wo Lachenmann abstrakt beim reinen Klang bleibt (auch wenn dieser an den Rändern schwankt), hat Goebbels' Musik einen fast epischen Erzählton, aber auf sophistiziertem technischen Niveau. Dirigent Peter Eötvös saß hier mitten unter den Musikern, die sich vielfach über die Bühne zu jeweils anderen Instrumenten bewegten, eine fast szenische Séance mit geringfügigen Längen, aber voller packender Ausstrahlung.

on: Walden (Composition for Orchestra)