16./17.11.1996, Roland Spiegel, Abendzeitung München
Review (de)

Die Großstadt - ein Sound-Moloch

Prinzregententheater: Heiner Goebbels' "Surrogate Cities"

Aufregend und verbüffend vom ersten Ton an ist es, das Orchesterwerk "Surrogate Cities" des Frankfurter Komponisten Heiner Goebbels. Die "szenische Komposition" von 1994 war jetzt mit der Jungen Deutschen Philharmonie unter Peter Rundel zum erstenmal in München zu erleben: Ungemein spannende anderthalb Stunden im Prinzregententheater, das damit seinen ersten Gastspiel-Höhepunkt hatte. Die paar völlig unverdienten Buhs für den Komponisten gingen in langem füßestampfenden Applaus unter. Alle Seh- und Hör-Gewohnheiten aus anderen Erfahrungen mit der Gegenwartsmusik muß man ablegen. Das Stück braust mit harschen Bläserfanfaren und grellen Streicher-Akkorden zu Lichtergeflacker, das über die Orchestergruppen hinwegfegt, wie ins Sinfonische gesteigerte Rockmusik los, und zieht dem Publikum in den folgenden sechzehn Sätzen mit ständig neuen Klang- und Lichtmixturen immer wieder den Boden unter den Füßen weg. Heiner Goebbels' "Surrogate Cities" ist eine Materialsammlung zum Thema Großstadt. Texte von Heiner Müller ("Der Horatier"), Italo Calvino, ("Die unsichtbaren Städte"), Hugo Hamilton ("Surrogate City") und Paul Auster ("In The Country of Last Things") liefern den literarischen Untergrund für eine raffinierte Architektur aus dem Klang des elektrisch verstärkten Orchesters und Alltags-Geräuschen der Metropolen aus dem Sampler. Die Großstadt, hier: ein Sound-Moloch, so faszinierend wie bedrohlich, der den Menschen verschlingt und zu gleich heimelig umfängt. Da wird eine Scarlatti-Klaviersonate plötzlich von schabenden, scharrenden Geräuschen überrollt, taucht mit den über Sampler eingespielten Gesängen Jüdischer Kantoren aus den 30er Jahren ein Echo der Vergangenheit auf, knallen, Percussion-Gewitter mit Pauken, Trommeln und Metallblechen los. Und zwischendrin: Gospel-Schmelz vom warmen Mezzosopran Gail Gilmores und die phänomenalen Eskapaden der Noise-Art-Wunderstimme von David Moss, - mit Raunzern, röhrenden Schreien und rhythmischem Hecheln. Die große Qualität von Goeb-bels' Komposition: Babylonische Sound-Vielfalt wird nicht zum eklektischen Sammelsurium, son-dern kommt formal absolut ge-schlossen daher. Ein Großstadt--Soundtrack des ausgehenden 20. Jahrhunderts, den die Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie unter Peter Rundel packend reali-sierten. Schön, daß es nicht bei diesem Konzert bleibt: Das Orchester spielt "Surrogate Cities" jetzt auf CD ein.

on: Surrogate Cities (Composition for Orchestra)