18 October 2002, Alexander Dick, Berliner Zeitung
Review (de)

Symphonie(konzert) der Großstadt

Umjubelter Saisonstart am Theater Freiburg mit Heiner Goebbels' Musiktheaterstück "Surrogate Cities"

Wo laufen sie denn, wo laufen sie denn hin? Auf der Bühne herrscht geschäftige Bewegung, die sich aus der Distanz des Beobachters durch ihre Ziellosigkeit auszuzeichnen scheint. Menschen kommen und gehen, ihre Wege kreuzen sich, ohne dass Anonymität und Zufall dadurch aufgehoben würden. Das ist der Mechanismus der Großstadt, deren Perpetuum mobile, das der Komponist Heiner Goebbels in seiner Komposition "Surrogate Cities" von 1994 zu beschreiben sucht. Zugegeben: Man braucht im beschaulichen Freiburg schon etwas Phantasie und reichlich Distanz, um angesichts der Vertrautheit von Bächle und Gässle nachzuvollziehen, wie die antike Polis zur modernen Metropolis wurde. Zum "Labyrinth von endlosen Schritten", in dem das Individuum "immer das Gefühl, verloren zu sein" hat, wie der amerikanische Schriftsteller Paul Auster in seiner New York-Trilogie schreibt. Oder eben als jenes "moderne Babylon", als das es Alfred Döblin definiert hatte. Und Gottfried Benn: "Ich sehe nicht viel Natur, komme selten an Seen, / Gärten nur sporadisch, mit Gittern vor, / oder Laubenkolonien, das ist alles, / ich bin auf Surrogate angewiesen". Die Surrogate, mit denen das Theater Freiburg zu seinem ehrgeizigen Saisonstart-Projekt aufwartet, entsprechen der Summe der Möglichkeiten, die dem modernen Theaterbetrieb zur Verfügung stehen: Musiktheater, Tanztheater, Schauspiel, Performance, Experiment, kurzum: modernes Welttheater, das bei der Reflexion des Topos Stadt aber vor allem eines nicht sein will: bloßes Stadttheater. Andreas Janders Bühne liefert dafür beste Voraussetzungen. Ein großer, offener Raum mit einem schachbrettartig angelegten (Stadt)Grundriss, über den sich eine transparente Balkenkonstruktion spannt, die als Synonym für die Hybris der Großstadt gelten kann. Auch wenn Meyerholds Bühnen-Konstruktivismus der 20er-Jahre und ein bisschen auch Andreas Reinhardts legendäres Bayreuther "Parsifal"-Bühnenbild von 1982 Pate gestanden haben mögen - Janders Raum hat Größe, auch im übertragenen Sinn. Denn zwischen den "Straßen" und auch in den "Hochhäusern" am Horizont sitzt das Orchester, verteilt über die ganze "Stadt". Und der Dirigent steht wie ein Verkehrspolizist in der vorderen Mitte des Raums, räumt auch mal das Feld, um den Verkehrsfluss nicht zu beeinträchtigen. Fast wie im richtigen Leben. Hier bietet sich ein Innehalten in den Betrachtungen an. Hat das Leben eine Dramaturgie? Und wenn ja, lässt sie sich maßstabgetreu auf das Theater übertragen? Ein Theatermacher wie Peter Zadek würde sagen: "Theater ist nicht nur wie das Leben, es ist das Leben und darf sich nicht zu weit aus dem Leben der Nicht-Theaterwelt zurückziehen." Die Freiburger Produktion allerdings ist nicht frei von solchen Selbstbeschränkungen, ja, sie hat sogar etwas Neo-Biedermeierliches. Die szenischen Anweisungen von Regisseur Thomas Krupa und Choreografin Amanda Miller, die das Programmheft als für die Inszenierung ebenbürtig Verantwortliche ausweist, scheinen jede Form von dramaturgischer Stringenz bewusst zu ignorieren. Wenn der Komponist über sein Werk sagt, es sei "der Versuch, sich von verschiedenen Seiten der Stadt zu nähern, sie zu beobachten", dann haben dies Krupa und Miller (und mit ihnen Kostümbildnerin Gabriele Wasmuth) wohl als Anleitung zur Neutralität und Zurückhaltung verstanden. Ihre Bilder bleiben meist im Bereich des Unbestimmten, Genügsamen. Die Schauspieler (Ilse Boettcher, Miguel Abrantes Ostrowski, Janina Sachau) schreiten, rennen und rezitieren, ebenso auch mitunter die Tänzer, die sich im übrigen der hinreichend bekannten Nomenklatur von Amanda Millers Ausdruckssprache bedienen. Die vom Produktionsteam versprochene spartenübergreifende Sinnlichkeit bleiben beide Seiten selbst im Fokus einer stimmigen Lichtregie (Bernhard Oesterle, Jander) ein bisschen schuldig. Wer echten Gewinn aus dem Abend ziehen will, der beobachte mit den Ohren. Denn die Symphonie der Großstadt ist in Wahrheit ein Symphoniekonzert der Großstadt. Mit großstädtischem Zuschnitt zumal. Was Kwamé Ryan und das Philharmonische Orchester aus den rhythmisch komplexen, stilistisch so differenten Strukturen von Goebbels' Musik machen, verdient höchstes Lob. Sie bearbeiten diesen "mächtigen, splittrigen Brocken", wie der Musikkritiker Hans-Klaus Jungheinrich Goebbels' erste große Orchesterarbeit umschrieben hat, mit Professionalität und Abgeklärtheit, aber in geradezu anrührender Emotionalität. Das Orchester verkörpert nahezu alles an diesem Abend: vom ostinaten Großstadtgetöse bis zum stillen (Auf-)Begehren des Individuums. Und Ryan stiftet Ordnung in dieser Welt der eklektizistischen und dennoch eigenwilligen Klänge. Richtig nah gehen einem die drei Horatier-Songs, denen Inge Bidlingmaier die Unmittelbarkeit von Soul und Blues grandios einhaucht. Ebenso perfekt finden sich ein Sänger (Gregor Dalal) und eine Schauspielerin (Janina Sachau) in der eruptiv rappenden Mischung aus Gesang und Geräusch zurecht. Den einhelligen Jubel des Premierenabends hat sich die Produktion schon ob dieser klangvollen Mischungen verdient. Noch etwas mehr gewagt in szenischer Hinsicht - und der Abend wäre womöglich wirklich zu einer ganz neuen "sinnlichen" Erfahrung geworden. (Alexander Dick)

on: Surrogate Cities (Composition for Orchestra)