10 May 2010, Christian Gampert, Deutschlandradio Kultur
Review (de)

Disziplin und Muße

Heiner Goebbels' "Industry and Idleness" in Zürich

Von Christian Gampert Heiner Goebbels hat sich zu einem der vielseitigsten und kreativsten Komponisten der "ernsten" Musik entwickelt. Goebbels inszeniert auch selbst - wie jetzt am Züricher "Schiffbau", wo sein szenisches Konzert "Industry and Idleness" Premiere hatte. Wenn Heiner Goebbels komponiert, dann spielt der Alltag eine große Rolle, Industrie-Sounds, Wind, der Lärm der Städte, alles digital bearbeitet und durch den Sampler gejagt. "Industry and Idleness", also "Fleiß und Faulheit", geht zurück auf den Druck-Zyklus des englischen Künstlers William Hogarth vom fleißigen und faulen Webergesellen aus dem 18. Jahrhundert. Aber Disziplin und Musse bezeichnen auch die Pole, zwischen denen Kreativität erst möglich ist; und sie sind zwei Seiten unserer gesellschaftlichen Existenz: brachiale, ausbeuterische Industrie, ständige Produktion - und Zurückgezogenheit, Ruhe, Privatheit. Das sind die Oberbegriffe, die das Konzert zusammenhalten. Goebbels, der in den 1980-er Jahren mit dem "Sogenannten Linksradikalen Blasorchester" in Frankfurt angefangen hat und dann auf Textmusik, Hörspiel und auch reine Orchesterwerke umschaltete, bedient sich aus einem reichen Fundus aus Rock, Jazz und vor allem natürlich E-Musik. Der Züricher Abend mit dem hochvirtuosen "Collegium Novum" unter Andrea Molino ist reines Klangtheater, eine musikalische Skulptur. Nach einem gewalttätigen, perkussiven Beginn (eine Phalanx von 22 Trommlern) kann man sich im Titelstück auch mal zurücklehnen in Klangteppiche, Lautmalereien, träumerische Passagen. Dann geht es gleich in die "Surrogate Cities", zehn Stücke, die Architektur in Sound übersetzen. Die Stadt ist bedrohlich, aber sie tanzt auch in vertrackten Geigen-Kantilenen und bösen Bläser-Eruptionen. Andererseits arbeitet Goebbels über den Sampler immer wieder reale Stadtgeräusche ein, aber auch historische Sounds - wie zum Beispiel den getragenen, sehnsüchtigen Gesang jüdischer Kantoren aus den 1930-er Jahren. Aber: kein Goebbels-Abend ohne Text. Der Schauspieler Peter Schweiger liest Heiner Müller, und es ist klar, dass diese lakonische Prosa auch musikalische Baupläne vorgibt. Es geht um Herakles, der die Hydra bekämpft - er dringt in einen furchterregenden Wald ein und merkt: der Wald selbst ist das Tier, das er töten soll. Dann wird er selbst zur Kampfmaschine und zieht in die Schlacht; metallische Hardrock-Elemente kommentieren Müller Text und werden ganz selbstverständlich integriert in einen sehr körperlichen Klangkosmos, der ansonsten aus aggressivem Blech und hoch differenzierten Streichern besteht. Goebbels Version von Robbe-Grillets Nouveau Roman "La Jalousie" erkundet zum Schluss die Gefühle, die Eifersucht eines Mannes: nicht illustrativ, sondern als innermusikalisches Geschehen. Transport-Paletten als Bühnen-Elemente, Hintergrund-Dias aus der Industrie-Kultur, ausgefeilte Licht-Stimmungen, ein im Raum verteiltes, schwarz gekleidetes, die Abstraktionen der Musik aber sehr individuell agierendes Ensemble: Das Ganze ist ein Gesamtkunstwerk auf musikalisch modernstem Materialstand.

Deutschlandradio Kultur FAZIT
on: Industry and Idleness (Music Theatre)