2 May 2013, Frieder Reininghaus, dradio kultur
Review (de)

Bemerkenswertes Musiktheater

Heiner Goebbels' Oper "Landschaft mit entfernten Verwandten" in Frankfurt

Heiner Goebbels' Oper "Landschaft mit entfernten Verwandten" in Frankfurt

Die in Frankfurt neu aufbereitete klangpluralistische "Landschaft" bietet kontemplative Landschaftsmusik. Heiner Goebbels ist eine der Pilotfiguren der musikalischen Postmoderne und dabei nicht nur Musiker, sondern ein Künstler und Kunst-Manager, der feinere Schwebungen des Zeitgeists hellwach erfasst.
Das Bemerkenswerteste an der Musiktheater-Kreation "Landschaft mit entfernten Verwandten" ist womöglich ein Dauerzustand, der erst nach und nach ins Bewusstsein der ZuschauerInnen dringt: Bei den Akteuren, die da zum Teil größere Sprechpartien bewältigen und sich zusammenfinden zu Bildern, die von Live-Musik erfüllt sind, handelt es sich - mit zwei Ausnahmen - um Mitglieder des Ensemble Modern, einer Kammermusik-Formation.

Der grenzüberschreitende Einsatz der Musikerinnen und Musiker hebt eine der am hartnäckigsten fortbestehenden Arbeitsteilungen des hergebrachten Theaterbetriebs auf. Heiner Goebbels, der Komponist und Regisseur, hat die Kollegen dazu motiviert, ungeahnte Kräfte und Kapazitäten freizusetzen. Also spielt z.B. Catherine Milliken nicht nur Oboe und Musette oder Valentin Garvie Trompete, Kornett und Posaune, sondern beide treten - ausgesuchte Textpassagen rezitierend - zugleich als SchauspielerInnen in Aktion. Sie engagieren sich darstellerisch in weit höherem Maß, als dies z.B. bei der Ausführung von "instrumentalem Theater" zu sehen war. Die Interpretation dieser "entfernten Verwandten" vollzieht sich mit Verve und mit dem Charme einer vom "wirklichen Leben" diktierten Alltäglichkeit. Das Ensemble-modern-Team unter musikalischer Leitung von Franck Ollu macht seine Sache vorzüglich - akkurat und allemal zielführend. Die charakteristischen kleinen Gehemmtheiten von nicht professionellen Darstellern sind offensichtlich ebenso gewollt wie das Outrieren und die Merkmale des begeisterten Laiensingens. All diese Elemente sind, wo sie eine transatlantische Landschaft mit entfernten Verwandten markieren, Fermente einer leisen Ironie und womöglich kritisch gemeint gegenüber den amerikanischen Freunden.

"Did it really happen?" Um was es wirklich geht in und mit dieser polyglotten Szenenfolge ist nicht in einem Satz zu sagen. Kaum etwas tritt klar hervor und ist eindeutig oder gar theaterdidaktisch deutlich. Da gibt es zunächst die Ebene der Lesefrüchte, Zitate quer durch die Kulturgeschichte, mit denen Heiner Goebbels offensichtlich den Avantgarden früherer Epochen huldigt - Leonardo da Vinci vornan und Gertrude Stein am ausführlichsten. Kriege, Bataillen, Schlachtengemälde, überhaupt das Militärische bis zu Details der bitteren Niederlage oder zum schrägen Triumphmarsch durchziehen den Text- und Bilder-Parcours.

Die optische Ausstattung, die der Bühnenbildner Klaus Grünberg im Zusammenwirken mit der für die Kostüme zuständigen Florence von Gerkan entwickelte, beziehen viel Schönheit aus der Kunstgeschichte. Die Aura wird in Gestalt von Renaissance-Gemälden und Rokoko-Kostümen herbeizitiert, aber auch durch eine auf die Zentralperspektive verweisende Lineatur gebrochen. Eingeschossen sind Momente von Urlaubseindrücken - wie z.B. einem Trip ins Maghreb mit arabeskem Hintergrund oder zu den Derwischen. Am Ende die Klangschalen-Zeremonie eines Esoterik-Trips.

Die in Frankfurt neu aufbereitete klangpluralistische "Landschaft" bietet manches Gedankenhäppchen und kontemplative Landschaftsmusik, aparte akustische Kontraste in den manchmal etwas länglich wirkenden Szenen und zwischen diesen. Die Produktion lässt sich einfach als kaltes Buffet der Cross-over-Musik nehmen, in der die Erinnerung an die avancierte neue Musik des 20. Jahrhunderts etwa so stark ist wie die an den kämpferischen 1. Mai in der Rhetorik der Gewerkschaftssekretäre. Goebbels war wieder einmal, wie häufiger im Leben, zu einem günstigen Augenblick am rechten Platz zur Stelle. Er ist eine der Pilotfiguren der musikalischen Postmoderne und dabei nicht nur Musiker, sondern ein Künstler und Kunst-Manager, der feinere Schwebungen des Zeitgeists hellwach erfasst und ihnen mit Geschick Rechnung trägt.

on: Landschaft mit entfernten Verwandten (Music Theatre)