Er will sein Publikum vor allem zum Staunen bringen, will es irritieren, verblüffen,
überraschen, will neugierig machen auf das Abseitige, Unbekannte, Exotische. Was könnte
heutzutage schwerer sein? Aber Heiner Goebbels, der Intendant der Ruhrtriennale, bleibt
seinem Grundsatz auch im zweiten Jahr konsequent treu und ist dabei erstaunlich erfolgreich.
Geradezu leidenschaftlich geht Heiner Goebbels Wagnisse ein, und deshalb scheute er auch
nicht die Arbeiten des hierzulande völlig unbekannten amerikanischen Komponisten Harry
Partch. Der Mann war ein echter Aussteiger, eine wahre Künstlernatur, schlug sich zeitweise
als Landstreicher durchs Leben, erfand über dreißig Musikinstrumente und ein ganz neues
Tonsystem. Kurz und gut: Bis zu seinem Tod im Jahr 1974 scherte sich Harry Partch nicht im
Geringsten um die europäische Klassik, um Traditionen und Gewohnheiten. Er ging seinen
eigenen Weg, fernab des Konzert- und Opernbetriebs. Dabei entstand ein so faszinierendes
und befremdliches Stück wie "Delusion of the fury" aus dem Jahr 1966, das gestern Abend in
der Jahrhunderthalle in Bochum zum ersten Mal in Europa zu hören war. Den englischen Titel
zu übersetzen - etwa "Die Einbildung der Raserei" - bringt wenig. Harry Partch erzählt keine
Geschichte, kennt keine Melodien, sondern führt dem aufgeschlossenen Publikum ein Ritual,
eine bildmächtige Zeremonie vor, inspiriert vom japanischen No-Theater und von einem
afrikanischen Volksmärchen. Komödie folgt auf Tragödie, wie in der Antike. Das alles ist
jedoch zweitrangig. Bei Harry Partch stehen die eigentümlichen, fast ausschließlich hölzernen
Schlag- und Zupf-Instrumente im Mittelpunkt. Das eigentlich Spannende ist die Art und
Weise, wie die Töne hervorgebracht werden, wie diese Musik entsteht. Tatsächlich gerät das
Publikum sofort ins Staunen über dieses nie gesehene Orchester, das auf der Bühne aufgebaut
ist. Kein einziges bekanntes Instrument! Stattdessen ein Chromomelodeon und eine Blue
Rainbow, eine Marimba Eroica und Castor und Pollux, und vieles mehr. Ein Gebirge aus
Holz - Harry Partch war angetan von den riesigen kalifornischen Redwood-Bäumen. Er
schätzte die reinen Naturtöne, experimentierte mit kleinen und kleinsten
Tonhöhenunterschieden und schuf einen Klangkosmos, der sehr viel ergreifender und
magischer ist, als die meist sehr verkopfte, kühle europäische Avantgarde. Heiner Goebbels,
der die Regie übernommen hatte, ließ zwischen den Harry-Partch-Instrumenten Wasser
fließen, Nebel wallen und Feuer entzünden. Ein schwarzes Gebirge türmt sich auf, riesenhaft
steigt die Sonne dahinter auf. Das mag sich esoterisch anhören und beliebig, blieb aber immer
im Ungefähren, rätselhaft, verwirrend und für das Publikum somit eine Herausforderung, die
es überwiegend gern annahm. Harry Partch ist kein theorielastiger Komponist, der dröge seine
Weltanschauung vor sich herträgt. Er hat Humor, er ist seelenvoll, wahrhaftig, unkompliziert
und somit im besten Sinne amerikanisch. Wieder einmal wurde deutlich, dass es kein
Jahrzehnt mit den sechziger Jahren aufnehmen kann, wenn es um visionäre Kraft, um
Utopien, um Mut und Entdeckerfreude geht. Spannende 75 Minuten zum Auftakt der
Ruhrtriennale, mehr Expedition als Experiment, und Begeisterung für den Klangkosmos des
Harry Partch. Er machte keine Kompromisse, und deshalb große Kunst.

Peter Jungblut
BR.de (DE), „DELUSION OF THE FURY“ VON HARRY