Delusion of the fury Ruhrtriennale 2013 ~ Jahrhunderthalle Bochum

Mit “Täuschung des Zorns” könnte man den Stücktitel von Harry Partchs 1969
uraufgeführtem Werk übersetzen. Zum Verständnis des Werks trägt der Titel jedoch alleine
nicht viel bei. Schon eher der Untertitel „A Ritual of Dream and Delusion“, also ein Ritual
von Traum und Täuschung. Denn es handelt sich hierbei nicht um ein dramaturgisches Stück
im klassischen Sinn, auch wenn es aus zwei Akten besteht und zwei Geschichten erzählt
werden.
Es ist eher ein Konzert mit szenischen Elementen. Denn die Musik steht eindeutig im
Mittelpunkt. Und diese ist einmalig und herausragend. Der US-amerikanische
Experimentator, Klangforscher und Komponist Harry Partch (1901 – 1974), sich stets am
ökonomischen Rand der amerikanischen Kultur bewegend, schuf nicht nur mystisch
anmutende rhythmische und atonale Klangskulpturen, er verließ die herkömmliche
Notenskala (mit 12 Tonstufen innerhalb einer Oktave) und entwickelte in den 30er-Jahren des
vorigen Jahrhunderts seine eigene, 43tönige Skala (auf der Basis der „reinen“ ptolemäischen
Intonation), die Microtonal Musik. Hierfür konstruierte er über 25 eigene Instrumente. Für
den Bau ließ er sich von griechisch-antiken und mittelalterlichen Theoretikern inspirieren
oder baute konventionelle Instrumente für seine Zwecke um. Seine Sammlung befindet sich
heute im zur Montclair State University gehörenden Alexander Kasser Theater in USBundesstaat
New Jersey.
Das Ensemble musikFabrik (Landes-Ensemble Nordrhein-Westfalens für zeitgenössische
Musik) hat sich nun in Zusammenarbeit mit der Ruhrtriennale die Mühe gemacht, die meisten
von Partchs Instrumenten nachzubauen und damit seiner Musik Gehör zu verschaffen (wobei
es immerhin eine von Harry Partch überwachte Aufnahme der Uraufführung gibt). So spricht
Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrfestspiele 2012-2014 und Regisseur dieser Aufführung,
denn auch im Vorwort des Programmhefts zu Recht von einem absoluten Glücksfall, dieses
Projekt gemeinsam mit dem Ensemble musikFabrik (unter Federführung des Schlagzeugers
und Instrumentenbauers Thomas Meixner) realisieren zu können, gilt es doch als
Schlüsselwerk und musikalische Quintessenz von Partchs OEuvre. Und der zuständige
Musikverlag (Schott Musik, Mainz) führt hierzu aus: „Mit der Verwendung von 25 dieser
Spezialinstrumente bietet Delusion of the Fury die Chance, das musikalische Universum eines
der ungewöhnlichsten amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts in all seinen
Schattierungen und seiner hypnotischen Kraft zu erleben“.
Das knapp eineinhalbstündige Werk hat in der Jahrhunderthalle Bochum seine europäische
Erstaufführung, was aufgrund der Anforderung an die Instrumente nicht verwundert.
Gleichzeitig wurde damit die diesjährige Ruhrtriennale eröffnet. Nachfolgende Aufführungen
in Holland, Norwegen und den USA sind bereits geplant.
Die Bühnenfläche in der Halle 4 der Bochumer Jahrhunderthalle ist mit Partchs Instrumenten
voll gestellt. Eine szenische Spielfläche ist nicht wirklich auszumachen. Ein Wasserlauf, der
Kulturfreak.de
25.08.2013
in einem flachen Bassin in der Bühnenmitte endet, vier schwingbare Großleuchten im
asiatisch anmutenden Stil, eine Anzeigentafel für die Szenentitel und sich aufblasende
Riesensteine sind die einzigen Requisiten. Denn das Hauptaugenmerk gilt den Instrumenten,
die aufgrund der ungewöhnlichen Optiken beeindrucken und bestaunt werden wollen, visuell
und akustisch. Herausragend beispielsweise „Spoils of War“ („Kriegsbeute“; ein Schlagwerk
u.a. für Glaskörper, Glocken und Holzrohren), „Gourd Tree & Cone Gongs“ („Kürbisbaum
und Kegel-Gongs“; eine Art Glockenspiel) und die „Marimba Eroica“ („Heroisches
Aufschlagidiophon“; vertikal stehendes Schlagwerk mit aufliegenden Resonanzkörpern,
gespielt mit massiv gedämpften Trommelstöcken).
Das, überwiegend aus Männern bestehende, Ensemble musikFabrik, ist mit hinreißender,
großer Leidenschaft konzentriert wie intensiv dabei. Die Musiker sind bei Partch nicht nur
Spieler ihrer Instrumente, sie sind auch Darsteller des szenischen Geschehens und singen
solistisch und chorisch.
Dabei beeindruckt am meisten, dass es einen musikalischen Leiter nicht zu geben scheint,
auch wenn natürlich einzelne Musiker die Einsätze vorgeben (Musikalische Einstudierung:
Arnold Marinissen). Keiner spielt sich in den Vordergrund, wie eine harmonische Familie
wirkt das Ensemble. Dennoch ragen einzelne Mitglieder rollenbedingt heraus, wie Christine
Chapmann als alte Ziegenhirtin und Axel Porath als tauber und kurzsichtiger Friedensrichter.
Sehr wichtig war Partch auch die Ausleuchtung seiner Aufführung, hier sorgt Klaus Grünberg
für abwechslungsreiche Momente, da er Bühne und Licht geschickt miteinander verwebt und
so archaisch anmutende Stimmungen hervorzaubert. In diese fügen sich auch sehr schön die
Kostüme von Florence von Gerkan ein (einfache Straßenkleidung, die auch als Anspielung
auf Harry Partchs Landstreichertum gesehen werden kann oder grüne Decken für die Schaf-
Szene im zweiten Akt).
Es erklingen ungewohnte Töne voller Poesie und Schönklang. Mitunter ist selbst die Nähe zu
den zur Zeit der Uraufführung angesagten Beatles oder den Beach Boys erkennbar, wenn für
kurze Sequenzen fast in klassischer Harmonie gesungen wird.
Am Ende lang anhaltender, intensiver Applaus und vereinzelt Standing Ovations.
Diese Ausnahmeaufführung sollte man sich nicht entgehen lassen.

Markus Gründig
Kulturfreak.de (DE), 25 August 2013