16 January 2004, Heiner Goebbels
Text (de)

15 Jahre Mousonturm

Rede zum Jubiläum des Künstlerhauses Mousonturm

Frankfurt am Main, 16. Januar 2004, publiziert in: mouson, Frankfurt, 2007, S.65. Guten Abend. "Ich bin Susanne Linke". Stellen Sie sich jetzt noch vor, ich hätte ein weißes Tutu an und würde gleich eine komplizierte Choreografie zum Anfang von Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" tanzen. Nach mir, nach ca. 7 Minuten käme ein anderer Mann auf die Bühne, vielleicht ein jüngerer, gelenkiger, ebenfalls mit den Worten " Ich bin Susanne Linke" (und für die, die es nicht wissen, Susanne Linke ist eine wichtige, sehr bekannte deutsche Tänzerin und Choreografin) und dieser zweite Mann tanzt dieselbe Choreografie, den gleichen Tanz, dann käme noch ein dritter Mann, oder eine Frau, eine Tänzerin und so weiter. Und- es wäre kein bißchen langweilig. Dann sind Sie mitten in einer Performance von Jerome Bel, die ich hier vor einigen Jahren gesehen habe. Und nach den ersten Lachern könnte man plötzlich etwas erfahren über die Unterschiede der Körper, der Geschlechter und des Alters, des Ausdrucks, über Identität, über Bewegung und ganz nebenbei auch über Autorenschaft und künstlerisches Eigentum - weil es ja schließlich eine Choreografie von Susanne Linke ist, aus dem Jahre 1978. Diese Erfahrung hätte übrigens dem Münchner Intendanten gut getan, der mir den Kompositionsauftrag zu Eislermaterial gegeben hat. Zu Beginn der Generalprobe, als er merkte, ich hatte überhaupt nicht komponiert - im konventionellen Sinne - sah er sehr verstört aus. Ich könnte noch mehrere Details aufzählen aus dieser "Last Performance" von Jerome Bel. Es würde mir dennoch nicht wirklich gelingen, ihnen auch nur annähernd zu vermitteln, was das erhellende Vergnügen dieses Abends ausgemacht hat. Vermutlich, weil es Kunst war. Und wenn es sich um Kunst handelt - und wir vergessen manchmal, daß auch Theater dazugehören kann - braucht es immer einen Rest, der nicht im Verständnis aufgeht und vielleicht auch nicht wiederzugeben ist. Wie bei einem guten Gedicht, das sich beim einmaligen Lesen nicht vollständig erschließt. Warum soll es also mit einer Aufführung also anders sein? Ich würde zum Beispiel so etwas dazurechnen, als hier auf der Studiobühne zwei einsame Cowboys - die LONE TWINS - , mit Cowboyhüten, Hemd und Weste, Cowboystiefeln, Jeans und dieser offenen Beinkleidung aus Leder, - mit verbundenen Augen ohne Musik aber dennoch synchron einen langsamen, lausigen Square-Dance getanzt haben; zwölf stunden lang; von High noon bis mitternacht. So mancher Zuschauer ging da gleich wieder raus, um aber später schon allein aus Neugier wiederzukommen, weil ihn interessiert hat, ob das wirklich durchhalten. Sie haben das übrigens - mit einer Pizza nach neun Stunden - durchgehalten. Und aus dieser minimalistischen Repetition - bestaunt, belächelt, beargwöhnt - wurde allmählich ein anrühriges, magisches Ritual, in das sich immer mehr Unbeteiligte vorsichtig eingemischt haben; vorsichtig, um die beiden nicht aus dem Takt zu bringen. So in der letzten Stunde waren alle zuschauer wieder da und hatten sich die Schritte abgeschaut. Auch das gehört zur Kunst: ein ungesehenes Bild, zwei Cowboys auf der Studiobühne, ein Rätsel, das sein Geheimnis behält und dennoch - in diesem Fall durch eine heitere Seriosität und die Dauer - große Intensität h a t , sie nicht pathetisch behauptet; sie hat sie durch das, was die Zuschauer ihr verleihen; sogar ohne daß die Darsteller das mitbekommen, denn sie haben ja verbundene Augen. Wie die beiden Beispiele zeigen, ist zu all dem, wofür der Mousonturm immer schon seit 15 Jahren gestanden hat, in den letzten Jahren etwas Neues, Wichtiges hinzugekommen, das mich immer wieder hierher lockt. Man hat sich programmatisch zunehmend für die Betonung auf Künstlerhaus stark gemacht - schließlich heißt der Mousonturm ja auch nicht Varieté oder Kabarett oder Volkstheater oder Batschkapp, sondern Künstlerhaus Mousonturm. Es geht dabei um ein Theater - jenseits des beharrenden Repertoire- und Ensemblegedankens, ein Theater, das andere Instanzen anerkennt, als die Priorität der Texte. Oder ein Theater, das gar nicht so tut, als wäre es eines; weil es an dieses So-tun nicht mehr glaubt. Z.B. ein dokumentarisches Theater, oder ein gefaktes dokumentarisches Theater. Ein Theater, das wir erst entdecken müssen, entdecken dürfen und können. Zum Beispiel in einer Aufführung der Gruppe Rimini-Protokoll: wenn drei ältere Damen der benachbarten Seniorenresidenz hier auf der Bühne als Experten für die Formel I auftauchen und uns damit über den Zusammenhang von Geschwindigkeit und Altern nachdenken machen. Wie ich es eingangs beschrieben habe, geht es dabei auch darum, 'Ballett und Tanz' weiter zu denken, als Neudefinition in sehr verschiedene Richtungen, also nochmal ganz anders als es in der nach wie vor unbenommen grandiosen Frankfurter Ballettcompagnie geschieht. Aber es ist in der Ästhetik nicht anders als in der Wirtschaft: Jede Form der Monopolisierung und Bündelung, und sei es auch noch so zugunsten vielbeschworener Synergieeffekte, arbeitet den Motivationen entgegen, macht die Apparate schwerfälliger und die Vielfalt der Möglichkeiten ärmer. So ist es auch knapp 10 Jahre später längst keine Geheimnis mehr, daß die Anbindung des TAT an die Städtischen Bühnen sicher ein Fehler war und die Auflösung vorprogrammiert. Aber die Tatsache, daß sich die kulturelle Landschaft Frankfurts erheblich verändert und das TAT seit gut fünf Jahren aufgehört hat, seine bis dahin wichtige und internationale Rolle bei Suche nach einer Zukunft der darstellenden Künste zu spielen, hat sicher dazu beigetragen, daß sich der neue Schwerpunkt des Mousonturms gegen anfängliche Zweifler und zögerliches Publikum inzwischen sehr, sehr durchsetzt hat und nicht nur inhaltlich erfolgreich ist. Und viele von denen, die hier angefangen haben, zum Beispiel Rimini Protokoll - sie inszenieren heute in Berlin, Luzern, Hamburg, München, Brüssel und füllen längst die nationalen Feuilletons der Frankfurter Tageszeitungen. es würde jetzt ein bißchen zuweit führen, aber angesichts eines Ensembles das wirklich den Namen Ensemble verdient, weil es seine Qualifikation aus der Sebstbestimmung des Ensembles bezieht, kann man auch ruhig mal problematisieren, welche Rolle das Ensemble in einem Stadt-oder Staatstheater oft nur spielen kann - wenn der Intendant sagt (O-Ton in einem hessischen Staatstheater) "hier wird besetzt, was Beine hat"; und man kann dagegen die vielen kleinen Kollektive halten, die hier zum Beispiel auftreten und deren andere Arbeitsweise sich eben auch in anderen Kunstformen ausdrückt . Hier im Mousonturm wird vor allem mit den Künstlerateliers und Stipendien, mit der "internationalen Sommerakademie" und mit der Nachwuchsförderung "Plateaux" unvoreingenommen und neugierig versucht, dem eine Chance zu geben, was noch-nicht-denkbar ist und was in den anderen Institutionen nicht realisiert werden kann. Und als Jurymitglied kann ich Ihnen sagen, es ist manchmal harte Arbeit 150 schlechte Videos mit Tänzerinnen zu sehen die in Unterwäsche wichtige Texte in Mikrophone sprechen, bis man endlich auf einige wenige Talente stößt. D.h. das ist eine Arbeit mit Ausdauer und großem Risiko und. Da verläßt schnell schon mal ein erfahrener Theaterkritiker desorientiert das unbekannte Terrain, oder sogar der Intendant wendet sich hilfesuchend oder erregt oder beides an die Kuratoren mit der Bemerkung "das mußte mir erklären" oder auch "muß das sein?", bis hin zu "ich kann diesen Dilletantismus nicht mehr sehen". Aber es muß sein. Anders kann von jungen Künstlern nicht geforscht und nichts Neues gefunden werden. Wenn wir nur das machen würden, von dem wir wissen, daß es funktioniert, geht’s nicht weiter. Als ich Eislermaterial gemacht habe, wußte ich auch nicht, ob man eine Bühne wirklich leerlassen kann und mir haben erfahrene Kollegen und Theatermacher (ich will - außer Peymann - keine Namen nennen) davon abgeraten und stattdessen empfohlen, den Bierbichler an die Rampe zu stellen. Das ist ja aber auch schwierig in einem so komplexen Gewebe wie dem Theater. Wenn zum Beispiel ein Theaterabend eine Performance noch auf dem Wege ist, nicht funktioniert, wenn der Rhythmus nicht stimmt, gehört viel Offenheit und Erfahrung dazu (aber eben beides), herauszuarbeiten, was daran dennoch diskussionswürdig und ausbaufähig ist. Hier hilft die Ungeduld - die nur das altbekannte kennt - nicht weiter. Interessant ist, warum das hier im Künstlerhaus Mousonturm in einer Weise funktioniert, die den Zuschauer so intensiv an dieser Suche teilhaben läßt. Ich glaube, weil es eine messbare Grenze für die Zuschaueranzahl und Raumgröße gibt, mit der das noch möglich ist. Ab bestimmten Größenordnungen muß das Treiben auf der Bühne nolens volens einen irgendwie totalitäreren Charakter bekommen, da es sonst nicht bis in die weit entfernten letzten Reihen vordringen kann. Und damit sind genau die Kunstformen ausgeschlossen, die - und das geschieht zur Zeit besonders - die Autorisierung des Zuschauers ins Zentrum ihrer Perspektive rücken. - Auch wenn dem Künstlerhaus für manche Projekte eine größere Bühne zu gönnen wäre, - auch wenn die Studiobühne im ersten Stock charmanter sein könnte, - auch wenn ich immer noch drauf warte, daß Dieter Buroch das Versprechen hält, das er mir einmal gegeben hat: nämlich endlich einmal den Balkon zu sprengen, unter dessen niedriger Betondecke sie heute abend wieder sitzen: solange es hier so wunderbare Erfahrungen zu machen gibt wie vor wenigen Wochen die Einladung zu einer Kirschenperformance, komme ich sehr gerne. Man schaute da in kleinem Kreis einer jungen Künstlerin zu, die auf 48 verschiedene Arten, sehr konzentriert und gewissenhaft, Kirschen um die Ecke bringt. Ich meine wirklich: ermordet. Man konnte erleben, wie grausam es sein kann, wehrlose Kirschen zu würgen, zu ersticken, mit Stromschlägen zu versengen, mit ferngesteuerten Spielzeugautos zu überfahren oder mit abgeschossenen Luftballons abstürzen zu lassen, oder schlimmer noch: sie einfach zu essen. Das war eine kurze, vergnügliche politische Metapher und hatte eine bezaubernde Dramatik, für die ich gerne schonmal ein Symphoniekonzert, eine Verdi Oper, oder Hedda Gabler sausen lasse. Das hätte übrigens auch Eisler gefallen. Ich habe in seinem Band mit den Bunge-Gesprächen gestern noch etwas herumgelesen, Ich zitiere das jetzt mal ausführlich, wir haben ja Zeit, das Konzert ist kurz, man soll nicht immer alles so aus dem Zusammenhang reißen.. ..:. er spricht da über die Zukunft der Musik und sagt dann: "Beim Drama ist das komplizierter...Obwohl zum Beispiel der von Brecht gesicherte Spaß und das Vergnügen in 80 oder 100 Jahren - vielleicht schon in 50 , hoffentlich in 30 - die Hauptfunktion sein wird. Eine sich belehrende Gesellschaft braucht durch die Bühne nur belehrt zu werden, soweit die Belehrung Spaß macht. Wo sie keinen Spaß mehr macht, ist sie auch heute schon erledigt. ...ein Sektierertum, das auch meine Freunde der Brecht Schule haben, wird sicher durch die Geschichte ungeheuer liquidiert werden. Und da ich auch dazu gehöre - ich bin ja auch ein Freund von Brecht - sehe ich meiner Liquidierung mit der größten Spannung entgegen." Kürzlich gab es hier noch eine Marathonveranstaltung - Sie sehen: Kunst geht nicht so schnell, man muß sich darauf einlassen, die ästhetische Erfahrung braucht die Verweildauer - eine Aufführung der Gruppe Forced Entertainment , sie dauerte ebenfalls zwölf Stunden; und irgendwann, - das schwankte natürlich in der Zuschauerfrequenz - als ich reinkam, saßen im Zuschauerraum gerade nur vier Leute - dafür aber um so begeisterter; ich kannte sie alle: eine Produzentin aus London, eine aus Rotterdam, eine aus Kopenhagen und eine Dramaturgin aus Hamburg. Sie sehen, längst ist das Künstlerhaus auch ein wichtiges Glied im internationalen Ko-Produktionskarusell der Scouts und Fährtensucher für Neue Live-art und Performance Kunst. Ich hoffe, das wird so bleiben. Herzlichen Glückwunsch also zum Geburtstag, zu 15 Jahren Mousonturm! Auch wenn die ersten Schritte eigentlich noch länger zurück liegen. Ich erinnere mich an einen turbulenten Abend einer Kulturinitative vor ca. 20 Jahren in den entkernten, leerstehenden und schlechtbeleuchteten Fabriketagen dieses Turms; und der Höhepunkt in dieser Nacht war ein Auftritt von Billi Mo, oder war es Bill Ramsey ? - ich weiß es nicht mehr genau, das ist aber auch eine ähnliche Liga - und wenn man bedenkt, heute spielt hier das Ensemble Modern mit Sepp Bierbichler 'Eislermaterial': dann ist das für ein Künstlerhaus - bei aller Bescheidenheit - ein großer Schritt, definitiv in die richtige Richtung. h.g.