11/2003, Heiner Goebbels, Theater der Zeit
Text (de)

"Den immer andern Bauplan der Maschine lesen"

Widerstände zwischen Theorie und künstlerischer Praxis.

Es gibt eine verbreitete Theoriefeindlichkeit bei Theatermachern und Theaterkritikern gleichermaßen: Kritiker wollen sich für die Unbefangenheit des Zuschauers stark machen - sie vermuten in der Theoriebildung fälschlicherweise einen Widerspruch dazu und verstehen unter Theaterwissenschaft vor allem eine historische. Daß sie das selbst einmal studiert haben, möchten sie am liebsten verheimlichen. Regisseure exkommunizieren die Dramaturgen spätestens in der Endphase der Inszenierung, um nicht zur Unzeit in den Abläufen und Gesetzen ihrer Arbeit irritiert zu werden und inszenieren 'aus dem Bauch heraus', weil sie die Wünsche des Publikums dort vermuten. Alle vereint das Schreckgespenst einer verkopften Inszenierung, in der die konzeptionellen Absichten nicht mehr ohne Programmheft vermittelbar sind - und das zunächst mit gutem Recht.
Das Verhältnis von Theaterwissenschaft und Theaterpraxis scheint also grundsätzlich gestört. Das fällt beim konventionellen Gebrauch überlieferter Mittel und Stücke nicht weiter auf. Aber in Zeiten zunehmender Komplexität und Verschränkung der Medien auf der Bühne ist es verhängnisvoll. Erfahrene Theaterkritiker ahnen das und polemisieren deswegen gegen das Postdramatische. Unerfahrene Theatermacher wissen das nicht, kopieren hier und da, was sie für modern halten, und stürzen kopflos ins Unglück.
Die Theoriefeindlichkeit speist sich aus dem Generalverdacht gegenüber einer einfachen Übersetzung von Theorie in Praxis. Und natürlich kann man theoretische Überlegungen nicht ungebrochen in szenische Lösungen einbringen. Auch den Reflektierteren unter den Künstlern wird das Verhältnis von Intuition und Konzept, von Sinnlichkeit und (Er)Kenntnis nicht wirklich transparent sein: “La Pentola guardata non bolle mai - bewachter Milchtopf kocht nie” sagt ein sizilianisches Sprichwort. Wissenschaft läßt sich nicht einfach 'anwenden'; und auch am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen verstehen wir darunter etwas anderes: eine Art ständiger Rückkopplung.
Für das Gelingen einer Arbeit scheint es im künstlerischen Prozess wichtig zu sein, zwischen Theorie und Praxis einen merkwürdigen Zwischenraum zu errichten - vielleicht wie eine Schleuse im Eingangsbereich einer Bank in unsicherer Nachbarschaft, bei der erst das Tor zur Straße hermetisch geschlossen sein muß, bevor die Tür zum Schalterraum und zur Kasse sich einladend öffnet. Gerade weil es keine unmittelbar wirksamen Rezepte und vor allem keine direkten Verknüpfungen von Theorie und Praxis gibt, ist die entscheidende Frage: wie oft geht man in der Arbeit durch diese Schleuse hindurch?
Dabei kann die Reflexion im künstlerischen Prozeß ein wichtiger Abstandhalter sein. “Wer auf dem Gegenstand liegt, sieht ihn nicht” sagt Heiner Müller. So führt oft eine manchmal frappierende Abstandlosigkeit dazu, daß alle Prämissen der Produktion implizit bleiben und damit für Außenstehende, d.h. Zuschauer / Zuhörer nicht mehr lesbar werden. Unabhängig von der Disziplin, in der die Studierenden an unserem Institut in ihren künstlerischen Projekten arbeiten (Musik, Hörspiel, Theater, Performance, Video), ist das ein ständiges, wichtiges Thema. Sich immer wieder zu vergewissern suchen, ob die Intention vermittelbar ist oder ob sie nicht Gefahr läuft, zu einem Selbstläufer zu werden - das zählt unter anderem zu den wichtigsten Impulsen unserer regelmäßigen Kritikgespräche.
Vielleicht muß man sich die künstlerische Praxis eher so vorstellen: sich in einem langwierigen und umständlichen Prozeß theoretisierender Konzeptphasen mühsam ein System von Kriterien, Linien, Netzen zu errichten, durch das - wenn es denn einmal stabil aufgebaut ist - die produktionsrelevanten Bauteile in der Praxis hoffentlich nicht mehr durchfallen, sondern im Gegenteil nur genau das im Probenprozeß noch hängenbleibt, das all den zuvor projizierten Bedingungen entspricht. Was dann nicht mehr heißt, daß man in der Lage sein muß, diese bewußt auswählen und setzen zu können. Wenn sich Theorie nicht in schwer vermittelbaren, abgekoppelten, sich verselbstständigenden Arbeiten niederschlagen soll, müssen alle Vorüberlegungen, Konzepte, Theorien, wissenschaftliche Voraussetzungen wohl durch den eigenen Körper hindurch. Das braucht Zeit.
Aber auch für die Wissenschaftler, Dramaturgen, Redakteure und Kritiker ist die interne Kenntnis dieser beschriebenen Vermittlung, auch ihres Scheiterns, eine unschätzbare Erfahrung. Sie sind es nämlich, die gegenüber der Praxis Anderer die Kriterien und die Skepsis hochhalten müssen, weil sie gelernt haben: jedes Material, jedes Medium, jede Textsorte, jeder Raum folgt eigenen Bauplänen und errichtet seine eigenen Gesetze, die es zu erkennen, zu respektieren oder zu überwinden gilt.
Unter streng hierarchischen Bedingungen lassen sich schnell Gesetze aufstellen: Gesetze über die Anlage einer Figur, Präsenz der Schauspieler / Sänger / Musiker, die Dramaturgie eines Textes und seiner szenischen Erfordernisse. Aus diesen Gesetzen läßt sich auch ableiten, inwieweit die Kostüme, das Bild, das Licht diesen Bedingunen entsprechen und sie stützen. Sobald aber das hierarchische Zentrum weg ist, wird das Zusammenspiel der Kräfte neu verhandelbar, kann es im Wortsinne multimedial werden und lassen sich die Komponenten schwerlich auf einfache Ursache- und Wirkungszusammenhänge reduzieren. Elias Canetti, mit seinem untrüglichen Gespür für Macht und Ohnmacht, hasste Menschen, die rasch Systeme bauen: “ich werde darauf sehen, daß sich meins nie schließt.”
Wenn ein(e) Studierende(r) mir eine eigene Szene zeigt, die nicht funktioniert, ist der schnelle Verweis auf e i n e Ursache meist zugleich die Ausgrenzung aller möglichen anderen. Die allzu sicheren Einwände - 'das müssen Sie so oder so machen' – funktionieren vielleicht für die Inszenierung eines bekannten Textes in einer naheliegenden Interpretation, nicht aber für experimentelle Spielformen. Die sicheren Einwände negieren die Vielzahl der Nebenwirkungen, oder besser: möglichen Hauptwirkungen: Wie verändert sich das Zuhören und damit der Text, wenn die Szene nur im Gegenlicht sichtbar wäre? Wie verändert sich die Ausstrahlung des Bildes, wenn die Musik lauter wäre oder länger? Was macht ein abstrakteres Kostüm mit dem Gang der Darstellerin, wenn er vom Sprachrhythmus unabhängiger wäre usw. Die Optionen, die einer Prüfung wert sind, sind dort, wo viele autonome Ebenen ineinandergreifen, sehr zahlreich. Die Ausgrenzung ist die Praxis eines konventionellen Regiehandwerks, in der die Ungeduld der Regisseure alle anderen Mittel von ihrem ästhetischen Recht ausschließt. Das geschieht besonders zu dem Zeitpunkt, an dem die nicht-textabhängigen Mittel (Licht, Ton, Raum) hinzukommen - bei den schlecht ausgerüsteten Probebühnen also in aller Regel viel zu spät.
Man weiß es zwar abstrakt: Je später die Mittel hinzugezogen werden, desto illustrativer sind sie. Aber es auch im positiven Sinne zu erleben, wie sie Platz greifen, sich verzahnen, entwickeln können, ist eine unschätzbare Erfahrung, die erlernt werden muß. Es spricht nichts für eine hysterische Konzentration bei Theaterproben, sondern es spricht im Gegenteil vieles für ein kreatives Zusammenspiel der beteiligten Kräfte, im Wortsinn.
Es geht mir nicht um die gruppendynamische Befreiung eines Produktionsteams, sondern eher um die kreative Suche nach neuen Widerständen und Gesetzen, in dieser Maschine, die Theater heißt – nach Widerständen, die für die Darsteller das Theater zu einem Theater der Erfahrung machen, weswegen er uns als Zuschauer auch daran teilhaben lassen kann.
Die Studierenden in Gießen haben seit vielen Jahren eine Präsentationsform ihrer Arbeiten THEATERMASCHINE genannt; diese Maschine schließt alles ein, nicht nur die Hardware des Schnürbodens, sondern alle Personen, Materialien und Mittel, die an diesem Prozeß beteiligt sind. Nur auf diese Weise ausgedehnt ist der Begriff von Maschine zu verstehen. Wenn man so will, ist zum Beispiel das ganze inszenatorische Konstrukt in meinen Stücken Schwarz auf Wess, Max Black und Eeislermaterial jeweils eine Maschine, die ihre eigenen, neuen Gesetze aufstellt. Aus diesen ergeben sich alle künstlerischen Konsequenzen und die Wirkung der Aufführung. Diese Gesetze müssen bearbeitet werden; ihren Bauplan müssen die an der Produktion Beteiligten lesen lernen. Nur der Zuschauer - der kann und soll ruhig sagen dürfen “ das ist so schön einfach”.
Auf der Suche nach Bildern, die den Blick nicht verengen, sondern erweitern.
Vor kurzem hörte ich einen Schauspiellehrer, der den Studierenden beibrachte "zu hoch, zu tief, zu laut, zu leise sind Anweisungen, die sich einem Regisseur in der Arbeit mit Schauspielern strengstens von selbst verbieten". Verblüffenderweise arbeite ich oft gerade so. Wenn man einmal gelernt hat, daß auf der Bühne viele Kräfte walten -und nicht nur die, die vom Schauspieler kontrollierbar sind - und wenn man diese nicht ignoriert, sondern sie für das Zusammenspiel der Medien zu nutzen in der Lage ist, werden völlig andere Möglichkeiten sichtbar, in denen wiederum auch die Schauspieler an den Widerständen wachsen können. Regie ist auch denkbar, wenn sie nicht aus dem Zentrum dessen kommt, was man bisher darunter verstand.
Die alte Schule erwartet von den Regieführenden, genau zu wissen, wie sie sich die Figur vorstellen; sie verlangt, keine konzeptionellen Fragen offen zu lassen, den Darstellern die Sicherheit zu geben, daß man sein Konzept fest im Griff hat. Das ist beneidenswertestes Handwerk. Aber die vorgebliche Sicherheit der Theatermacher, die natürlich vom Betrieb, von nicht erwachsen werden wollenden Schauspielern oder Musikern gesucht wird (auch viele Orchestermusiker ziehen immer noch den gestrengen Dirigenten vor) - ist das Relikt einer nach klaren Prioritäten organisierten künstlerischen Praxis. Diese Priorität kann der Theatertext sein oder die Partitur einer Oper. Zu einem Zeitpunkt aber, an dem diese Prioritäten explosionsartig aufbrechen und sich vernetzen lassen - sehr zum Wohle der Zuschauer, die es genießen, endlich einmal nicht mehr unterfordert zu werden - müssen wir der zunehmenden Komplexität gewachsen sein. Alle, die am Prozeß Theater beteiligt sind, müssen vorbereitet werden auf ein Zusammenspiel der Mittel, für die es keine schnellen Konzepte und Kanonisierungen gibt. Gerade an den aufregenden Rändern einer forschenden Theaterpraxis, die sich aus einem Mißtrauen gegenüber den Grundannahmen speist - vielleicht weil die meisten lieber ins Kino gehen oder lesen -, ist auch das Vokabular der Theaterwissenschaft in ständiger Veränderung.
Wenn also in der künstlerischen Praxis nicht mehr die gesicherte Mitteilung und die enggeführte Interpretation einer Vorlage gemeint ist (nach dem Motto “ich möchte das neue Stück von xyz vor einer Bushaltestelle inszenieren", oder "als spiele es im Irrenhaus” ), sondern wenn eine künstlerische Erfahrung gesucht wird, die sich dem Zuschauer öffnet und sich nicht vor ihm in nur einer möglichen Lesart verschließt - dann wird es gerade erst interessant.
Wenn die Studierenden gar das überlieferte Repräsentationskonzept über Bord werfen und statt Texten auf einer Guckkastenbühne vielleicht lieber Szenen für eine kleine Gruppe von Zuschauern im Fahrstuhl entwerfen (Lift off von Hanstein/Kretzschmar) oder in einem Hörstück der Theatralität von gelangweilten Bahnwärtern akustisch nachspüren (Stein und Vogel von Lorey/Kretzschmar) oder in einer Klanginstallation akustische Wellen von vorbeiradelnden Kindern umwandeln lassen in Wasserbilder auf der Oberfläche eines Kanals (Klangwasser von H.L.Wiegel), dann können die Kriterien immer nur aus der jeweiligen Materie, den angewandten Medien, dem Entwurf, dem Konzept selbst kommen: Aus dem Bauplan der jeweiligen Maschine, die diese Aufführung steuert..
Darin besteht die Chance von Forschung und Lehre, die nicht an die handwerklichen Grundfesten des Theatermachens gebunden sind. Natürlich sind Schauspielstudenten zunächst viele Semester mit ihrem Körper, ihrer Sprache, ihren Rollen beschäftigt. Und der Schauspiellehrer ist darüberhinaus mit dem Auftrag versehen, sie für den Markt - so wie er sich zur Zeit darstellt - vorzubereiten. In aller Regel werden sich die Schauspieler von den Gesetzen dieses Handwerks erst dann lösen können, wenn sie den standardisierten Ausführungen überdrüssig werden, weil sie sie beherrschen – wie die Schauspieler mit denen ich bisher das Glück hatte arbeiten zu können: André Wilms, Ernst Stötzner, Josef Bierbichler.
Wünschenswert wäre aber - und wir sind mit dem Ausbildungsverbund der hessischen Theaterakademie gerade bei den allerersten, vorsichtigen Schritten -, wenn es nicht ein Privileg dieser Schauspieler oder professioneller Musiker im Ensemble Modern bliebe, mit solchen Aufgaben konfrontiert zu sein und an ihnen zu wachsen, sondern wenn es schon substantieller Bestandteil auch der fachspezifischen Ausbildung würde, hierauf vorzubereiten. Früher oder später werden d i e Tänzer ein Engagement finden, die nicht nur hervorragend tanzen, sondern auch sprechen können, d i e Musiker, die nicht nur ihr Instrument beherrschen, sondern sich auch zu bewegen wissen, und d i e Schauspieler, die sich auch einer Theatermaschine stellen, die vielleicht "höher, tiefer, lauter oder leiser" sagt. Vor allem also darstellende Künstler und Künstlerinnen, die bereit sind, die Grundannahmen ihrer Kunst in Frage zu stellen und über das Theater nachzudenken.
Aus dem Eröffnungsvortrag zum Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Theaterwissenschaft und Theaterpraxis, gehalten am 1.11.2002, Stadttheater Hildesheim. Der ungekürzte Text erscheint in Hajo Kurzenberger; Annemarie Matzke (Hrsg.): "TheorieTheaterPraxis". Theater der Zeit: Berlin 2004.
Titelzeile zitiert aus: Heiner Müller, Herakles 2 oder die Hydra, in: Geschichten aus der Produktion 2, Berlin 1979, S.103

Opening Lecture am Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Theaterwissenschaften im Stadtheater Hildesheim, 01.11.02.
in: Theater der Zeit, 11/2003
in: Hajo Kurzenberger and Annemarie Matzke (ed.), Theater Theorie und Praxis, p. 17-27, Theater der Zeit, Berlin 2004