1996, Heiner Goebbels
Text (de)

Schnitt . Frankfurt

Rede zum Abschluss der Hindemith-Tage, Alte Oper, 26.11.1995

"...meine Damen und Herren, liebe Jugend, ich danke Ihnen herzlich für diesen überaus freundlichen Empfang, aber ich muß sagen, daß ich ihn kaum verdient habe. Die Freude, bei diesem Musikfest dabei zu sein, ist ja ganz auf meiner Seite. Wie dem auch sei, ich will Ihnen ein paar Gedanken zur heutigen Musik übermitteln." (Paul Hindemith)

Zitat Ende: das war nicht von mir, sondern der Anfang einer Rede, die Paul Hindemith einmal gehalten hat und diesen Satz übernehme ich gerne: "Wie dem auch sei, ich will Ihnen ein paar Gedanken zur heutigen Musik übermitteln."
Hier werden heute keine Preise verliehen, ich halte im Gegensatz zu mancher Ankündigung auch keine Laudatio; wir erinnern uns an einen Frankfurter Komponisten - und gerade das (nämlich in Frankfurt zu arbeiten) verbindet mich mit ihm, vielleicht nicht viel mehr. Und für Erinnerungen ist Frankfurt nicht der richtige Ort. Frankfurt zeichnet sich gegenüber anderen Städten durch einen größeren Realismus aus, in dem für Reminiszenzen wenig Platz ist, und zu dem auch gehört, daß das Verhältnis von Kultur zum 'Rest der Stadt' in erschreckender Weise unausgeglichen ist. Das ist gleichzeitig ein Kompliment an die Stadt (von der aus ich arbeite) und ein Vorwurf (an die Stadt, in der ich lebe); und es bezieht sich auf Hochkultur, Subkultur und Lebenskultur in der gleichen Weise: Es gibt nicht die Cafés, die Wien und Paris so anziehend machen, es gibt nicht die vollen Theater, von denen man in Hamburg und München hört, es gibt hier keine Festwochen mehr, wie sie Berlin noch hat. Das Haus für Oper und Ballett und das TAT werden im Schnitt nur die Hälfte des Monats bespielt. Und es ist auch keine Panne, wenn Polizisten bei der Auflösung einer Buchmessen-Party gleich zum Schlagstock greifen oder Abgeordnete nur die inzwischen berühmt gewordenen 7 Minuten aufbringen, um über die Zukunft des Kultur-Ressorts zu entscheiden, sondern das ist der Rand des Frankfurter Tellers.
Dadurch entsteht aber ein Zustand, in dem es keine Selbstverständlichkeit mehr ist, am Abend sich auf 'anregende Weise den Abstand zu schaffen zu den Geschäften des Tages', sondern der Kulturbetrieb wird zunehmend zu einem Spezialgenuß, der von Spezialisten verteidigt werden muss. Das Verhältnis verspannt sich, der Druck auf den Erfolg der Neuinszenierung / Uraufführung / oder der Party wächst umgekehrt proportional mit ihrer Häufigkeit.
Frankfurt hat sozusagen das zweifelhafte Glück, in der Frage eines zeitgenössischen Verhältnisses von kulturellem Angebot und Nachfrage den anderen Städten um eine Nase voraus zu sein. Wir brauchen uns darauf nichts einzubilden, und doch ist es nur eine Frage der Zeit, wann die anderen das gleiche Phänomen ereilen wird. Wer auf Seiten des Kulturbetriebs das in Frankfurt erkennt und strukturell darauf zu reagieren in der Lage ist, wird eine Chance haben - und das ist keine Frage des Geldes.
Was aber für die Kultur der Frankfurter eine Katastrophe ist, kann für die Komponisten anregend sein. Das Signal, es gäbe Wichtigeres zu tun, ist unüberhörbar und auch nicht immer von der Hand zu weisen.
Daß Musiker die Erfahrung machen, nicht der Nabel der Welt zu sein, hat ihrer Arbeit selten geschadet. Im Gegenteil. Sich nicht heimisch zu fühlen, nicht in den ewig gleichen Zirkeln zu kreisen, in denen man bestätigt wird, kann die Arbeit in einem produktiven Sinne anfälliger machen für das, was sonst noch um uns vorgeht. Die Neue Musik scheint den Schutz, unter dem sie steht, nicht / schon lange nicht mehr für Innovationen zu nutzen, sondern eher für die unangefochtene Verlängerung eiserner (nicht neuer) Prinzipen und für die Verteidigung ihrer Szene.
Wenn sich Kollegen beklagen, daß "die Situation der Komponisten in unserer Gesellschaft schwieriger geworden sei", ist genau das die beste Voraussetzung dafür, aus dem "Wandel der Zeiten schöpferische Konsequenzen" zu ziehen - was sie ja von sich behaupten würden. Hoffen wir, daß dadurch die vorgebliche Sicherheit der Produzierenden erschüttert wird. Gefragt, ob er ein Künstler sei ? antwortete David Bowie letzte Woche im Spiegel: "Ich bin eine Frage". Das würde man von den Komponisten gerne öfter hören. Der Komponist muß nicht die Antworten für die Hörer bereit haben, sondern sie an seinen Erfahrungen teilhaben lassen und ruhig an den Projekten arbeiten, die er nicht versteht.
Der wachsenden Komplexität gesellschaftlicher Erfahrung muß nicht notwendigerweise die Komplexität der musikalischen Sprache entsprechen, sondern verlangt wird zunächst mal die Komplexität der Erfahrung des Komponisten. Radikalität nur in der musikalischen Sprache ist nicht, wenn sie ihre Bedingungen nicht reflektiert. Der Rückzug ins Komponierhäuschen funktioniert nicht mehr.
Selbst das Komponierhäuschen von Gustav Mahler steht heute nicht mehr beschaulich einsam am Attersee, sondern mitten auf einem turbulenten Campingplatz. Wie Symphonien klingen, die unter diesen Bedingungen entstehen und wie lang sie sind - das würde mich interessieren.
Der politische Anspruch des Komponisten entscheidet sich nicht an offiziellen Anlässen und Verlautbarungen, sondern da, wo er offen ist für außermusikalische Erfahrungen. Offenheit (und auch die von Hindemith!) ist nicht länger notwendigerweise eine Schwäche, weil der Autonomiebegriff des Künstlers fragwürdig wird. Die vielgepriesene Freiheit des Komponisten ist nicht die seiner Zuhörer und umgekehrt. Das Hören des Hörers muß in der kompositorischen Überlegung eine Rolle spielen wie alles andere auch.
Ich war gerade in Wien, dort hatte man ein Wochenende mit vielen Kammermusik-Aufführungen, mit Film, Hörspiel und Diskussionen in einem wunderschönen Jugenstiltheater mit großem Aufwand vorbereitet - der einzige Haken war: es wurde nicht eine einzige Karte verkauft - schlimmer noch, man ging einfach darüber hinweg und absolvierte das gesamte Programm vor einem Häuflein Angehöriger und Mitwirkender.
Zu einem neuen erweiterten Begriff von Komplexität gehört der Einbezug außermusikalischen Denkens; außerdem braucht die Musik dringend Anregungen, die nicht mehr nur aus ihr selbst kommen - da kamen sie lange genug her. (Deswegen teile ich auch nicht die Bewunderung für die bedingungslose Hingabe Hindemiths an die Musik.) Der Komponist muß sein Spezialistentum in Frage stellen (Eisler würde wieder sagen: wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts); aber wenigstens dort sollte er sich auskennen: auch wissen, was Rave und Chill-Out ist, oder im HipHop plötzlich ein Denken über Musik und Montage entdecken, das man am Schreibtisch nicht hätte erfinden können. Man muss ernst nehmen, daß zu den aufregendsten Musikern dieses Jahrhunderts viele gehören, die keine Noten lesen können und vor allem die, die nicht unserer Kultur angehören; man wird erkennen, daß die Komponisten die Allerletzten sind, die die Ideale des 19. Jahrhunderts vom autonomen Individuum hochhalten; daß es vielleicht nicht einmal mehr wichtig ist, der Erfinder allen Materials zu sein - und, man wird vielleicht sogar entdecken, wie kreativ und um wieviel unvorhersehbarer auch kollektives Arbeiten sein kann - das beginnt schon im Streit mit dem Duopartner. Das wird alles nicht leichter, sondern schwieriger sein.
Aber die Ausbildung der Musiker hat mit den ästhetischen Impulsen der Gegenwart und den diese prägenden Strukturen weniger denn je zu tun; (da nützt auch in der Hochschule eine Abteilung für den Jazz nichts, denn dessen innovative Zeit war schon in den 70ern vorbei).
Man muss auch die aktuelle Musik, die jetzt eine Rolle spielt, nicht mögen, aber zur Kenntnis nehmen; und auch diese muss in eine Strategie für eine musikalische Ausbildung der Zunkuft mit hinein.
Vielleicht ist es ein Spezifikum der Stadt Frankfurt, daß man als Künstler nie das Gefühl hat, von ihr getragen zu werden (das wird Hindemith nicht anders gegangen sein), sondern eher das Bedürfnis hat, gegen sie anzuarbeiten, gegen ihre antikulturellen Impulse. Nicht einmal im Underground gibt es die Nischen, die denen in Berlin oder Hamburg vergleichbar wären. Alles muss sich sofort der Auseinandersetzung stellen, die die Stadt provoziert. Diese Reibung schärft die Waffen, und die 'Schutz'-losigkeit in Frankfurt forciert einen zeitgenössischen Kunstbegriff; das ist der unverdiente Standortvorteil einer kulturellen Misere und Härte; gibt uns aber die Chance und den Auftrag, zu fragen, ob die Grundvoraussetzungen, die die akademische Musikentwicklung in diesem Jahrhundert geprägt haben und die die wunderbarsten Kunstwerke hervorgebracht haben, immer noch Gültigkeit haben und hochgehalten werden müssen: den Fetisch der Komplexität des musikalischen Materials, das Primat der Handwerklichkeit statt kreativer Idee, Atonalität und serielle Dogmen, das Tabu rhythmischer Kontinuitäten usw. Jeder, der in ein x-beliebiges Konzert Neuer Musik geht, kennt diesen inzwischen zum Jargon verkommenen Tonfall. Für das mangelnde Interesse daran ist nicht nur der 'flache Zeitgeist' und der 'schreckliche Markt' verantwortlich, sondern auch das schmale Angebot auf der Gegenseite. Nichts gegen all die klanglichen Errungenschaften, aber Alles gegen ihre fundamentalistische Verteidigung - deren Opfer auch Hindemith geworden ist.
Zu Beginn dieser Tage wurde versucht, einiges vom Hindemith-Bild der Wiener und Frankfurter Schulen (zu denen ich mich nicht zähle) zurecht zu rücken. Ich möchte dem hinzufügen, was ich vermisst habe, und was mir - keineswegs sehr vertraut mit seinem Werk - aufgefallen ist:
Es gibt (zugegebenerweise selten, aber zum Beispiel in den Bratschensonaten, und auch in dem eben gehörten 'Dämon') eine Schnittweise, die mir das in diesen Stücken verwendete kompositorische Verfahren selbst aus heutiger Sicht zeitgenössisch erscheinen läßt, aktueller als vieles aus der Wiener Schule und den ihr verpflichteten Komponisten; die haben zwar auf höchstem Standard und mit elaborierter musikalischer Sprache die kompositorische Entwicklung bis an ihr denkbares Ende getrieben, blieben aber immer gerade diesem, dem Entwicklungs-gedanken in geradezu autoritärer Weise verpflichtet. Deshalb konnten sie auch etwas, das nicht die Tonalität und den rhythmischen Puls, sondern das Verhältnis zum Hörer in Frage stellt, gar nicht wahrnehmen.
Was ich damit meine: kurz gesagt herrscht nach dem 18. Jahrhundert in der Musik meist eine subjektive Perspektive des Komponierenden; und diese Musik ist nur wahrzunehmen, wenn man ihr folgt; der Hörer muß dem Gedanken, dem Gefühl des Komponisten nachgehen; den Weg, wie aus einigen Tönen mehrere werden, wohin sie führen, in welche Klänge sie sich verwandeln, nachzugehen bereit sein; er muß/will der Einladung folgen/ liebt es, der Einladung zu folgen und wird die sich entwickelnden musikalischen Bilder im Nachvollzug eben dieser subjektiven Perspektive erleben. Was man dann schließlich mag, ob Schumann, Schubert, Mahler, Bruckner, Schönberg oder Wagner (um lieber von den Toten zu reden, auch wenn das Verfahren meist noch dasselbe ist) ist letztlich Geschmacksache - der eine stattet seine Töne üppiger aus und lullt uns mehr ein, der andere bricht mit den Erwartungen stärker, der dritte verliert sich völlig im Klang usw.- aber die Methode, mit der die Musik uns Hörer verpflichtet, und das Verhältnis, das wir zu ihr eingehen, sind die gleichen - und dessen werden wir als Hörer müde.
Hindemith scheint mir (möglicherweise auch aus dem Versuch, an barocke Kompositionstechniken anzuknüpfen) anders herangegangen zu sein: Hier finden sich Gegenüberstellungen von verschiedenen Materialien, die nicht wie zwei Themen miteinander verwoben sind oder 'ach in einer Brust sich streiten'; wirkliche Schnitte (Heißenbüttel nennt es 'riff-artig'), in denen das komponierende Subjekt weniger präsent ist und eher zu verschwinden scheint. (Die motorische Kontinuität macht das für Jeden spürbar. Nicht umsonst heimst er sich dabei Vorwürfe des Maschinellen ein.) Man denkt dabei an kompositorische Techniken, wie sie in der amerikanischen Minimalart später wieder auftauchen oder zu Tode geritten werden. In diesen Schnitten ist eine Technik präsent, die mit dem Aufkommen des Films und der Tonspuren auf der Höhe des gesellschaftlichen Standards war; auch wenn der Blick auf sie verstellt ist von dem oft allzu biederen musikalischen Material, mit dem Hindemith sich abgibt.
Möglicherweise sind es gerade die Stücke, von denen einige meiner Kollegen sagen: 'da bleib ich außen vor'/ 'davon werde ich nicht gefangen genommen'/ 'die fesseln mich nicht'. Aber das ist es gerade - und ist auch das Utopische an diesen Stücken: Die Konfrontation des Hörers mit divergierendem Material und Wiederholungen gibt einen Spielraum, eine Freiheit der Betrachtung und der Erfahrung. Einen Freiraum, den der Hörer zunehmend braucht, wenn er nicht mehr 'geführt' werden will.
Natürlich müssen auch Schnitte 'verführen', muss auch diese Technik und ein Wechselverhältnis von Impulsen und ihrer Zurücknahme den Hörer dazu einladen, sich den Raum, den sie läßt, zu nehmen; aber im Verschwinden des kompositorischen Subjekts steckt der Kern einer realistischen Auseinandersetzung. Womit wir wieder bei Frankfurt wären. Eine Auseinandersetzung, wie wenn man zu Fuß über die 'Neue Mainzer' will. Die ist städtebaulich kein Meisterwerk und verkehrstechnisch eine Katastrophe; da wird man aber auch nicht an der Hand genommen, sondern braucht vielleicht die sieben Sinne, die man entwickeln kann beim Hören einer kompositorischen Technik, wie Hindemith sie vorbereitet; und an der ich heute durchaus, wenn auch in einer anderen Ästhetik, anknüpfen kann.
Die "Arbeit am Verschwinden des Komponisten ist Widerstand gegen das Verschwinden des Menschen" könnte man etwas pathetisch - und frei nach Heiner Müller - schließen.
Und damit verschwinde ich.

in: Programmbuch: Frankfurt feiert Hindemith (HR, Frankfurt & Mainz 1996)
in: MusikTexte 1997