1990, Heiner Goebbels
Text (de)

Heiner Müller vertonen

Beitrag zur Podiumsdiskussion anlässlich der EXPERIMENTA 6, Frankfurt 1990

in: Donaueschinger Musiktage 1990

Heiner Müller vertonen? Auch als Komponist würde ich zunächst sagen: Nein. Die Sprache Müllers hat neben vielen anderen Qualitäten den Vorzug, selbst schon musikalisch zu sein: mit großer Rhythmik ist sie durch Auslassungen, Zäsuren, in der Musik würde man sagen: Pausen und Schnitte, strukturiert und darüber hinaus auch in Klängen komponiert, die nicht privaten Obsessionen geschuldet sind, sondern Schichten des Inhalts reflektieren, und zwar nicht die oberflächlichsten.

Man kann das natürlich auch Libretto-Qualität nennen, vergißt aber damit leicht, daß die Texte zunächst wirklich für das Sprechtheater geschrieben sind; nimmt man das nicht ernst genug, benutzt man den Text von Müller als Vorwand für ein musikalisches Genre, dessen er nicht bedarf, dann komponiert man bestenfalls vorzügliche Musik, atomisiert den Text; der Hörer versteht vielleicht ein, zwei Worte (mir ging es so zum Beispiel bei der Komposition von Wolfgang Rihm "Frau/Stimme", ich habe einmal "Abgrund" verstanden), die aber genausogut von Hölderlin oder vom Komponisten sein könnten. Hauptsache bildungsbürgerlich, abgesichert, programmheftfähig, mit Tiefgang. Müller ist letztlich eine Fußnote, eine Widmung, nicht auch politischer Autor, der gebraucht wird, sondern nur großer Verschlüsseler der Weltgeschichte; nicht der, der Prometheus umschreibt zur Honecker-Figur, sondern nur der, der die alten allgemein-menschlichen Mythologien vorm Vergessen bewahrt.

Müllers Texte sind aber selbst musikalisch, im strengen Sinn; eher verwandt der Musik Bachs oder Schönbergs als der Chopins oder Strawinskys. Wort für Wort ist einzeln, doch mit Körperlichkeit gesetzt, wie Ton für Ton. Die Texte evozieren Bilder und arbeiten mit ihnen nicht durch atmosphärische Text-Masse oder Überwältigung, sondern durch den knappen Anstoß, der der Aufnahme des Lesers oder Hörers die Richtungen weist, in der Erfahrungen möglich sind. (Der Genuß der Bachfuge besteht in der Komplettierung des strukturellen Skeletts, das Bach uns anbietet, und dessen Fleisch wir vielleicht ahnen, wenn Glenn Gould zwar mit äußerster Mechanik und ohne Sentimentalität die Hände einsetzt, ihm aber beim Dazu-Summen emotional der Gaul durchgeht.)

Ich möchte zunächst also sagen, Müller-Texte zu vertonen läuft Gefahr, so etwas zu sein, wie eine Bachfuge für großes Orchester einzurichten, um nicht zu sagen: aufzublasen, mit Effekten auszustatten, Dramatik und Pathos auszufüllen, da wo es Sache des Hörers/Lesers ist, sie zu erleben, als selbständigen Akt.

(So ist es übrigens auch mit Müllers Komik, mit seinem Humor; da, wo der Humor durchinszeniert wird, und vorgeführt, vorgespielt, ist er schon gestorben; da wo er noch die Chance hat, entdeckt zu werden, gehört er hin.)

Auch wenn man es bei vielen Inszenierungen nicht vermuten könnte, schreibt Müller doch fürs Theater; aber nicht für ein Theater der Figuren, sondern für ein Theater der Texte. Texte, die als Literatur auch auf der Bühne in Erscheinung treten können, aber keine Bebilderung brauchen, das heißt: wenn andere Mittel hinzukommen (Bild, Musik, Schauspieler, Licht, Raum etc.), müssen sie autonom sein oder zumindest immer wieder den autonomen Raum zwischen Text und Möglichkeit öffnen. Literatur auf der Bühne - nicht als blutleere, akademische Projektion, aber mit der ganzen Freiheit, die den Vorzug der Literatur gegenüber dem Theater hat, nicht die Freiheit der Auswahl und Beliebigkeit, aber die Freiheit des Lesers, den Gedanken, das Gefühl selbst zu produzieren, es nicht vorgesetzt zu bekommen, oder verabreicht.

Der Leser eines Textes von Heiner Müller geht Wege zurück, genauer: oft vor und zurück, Wege zwischen den Worten, weil präzise Auslassungen, Verkürzungen immer wieder zu diesen Wegen einladen; oder die Aussicht auf ein in 'Sicht kommendes Ziel' einen selbst veranlaßt, Wege zu schlagen, wie Abkürzungen, durch Dickicht, oder bei Rot über die Straße.

Eine Inszenierung oder auch eine Vertonung, die diese Wegweiser linear miteinander verbindet oder psychologisch motiviert, verletzt nicht nur die Temperatur oder "den guten Geschmack" sondern die grundsätzlichen Voraussetzungen des Verhältnisses von Konsument und Autor, das bei Müller nicht mehr im Vorsetzen und Nachvollzug von Erfahrungen besteht, sondern in einer Kunstform, die einem - zur Auseinandersetzung bereit - gegenübersteht wie ein Iglu von Mario Merz oder ein Plateau von Komar & Melamid.

Diese Öffnung hat sicher zu tun mit einem geplanten, nicht beliebigen Wechselverhältnis von Sinngebung und Sinnentzug, das uns Leser immer wieder motiviert, uns im Prozeß der Aneignung zu bewegen, und uns nicht im Zustand des Verstehen-Möchtens oder Entgegennehmens plazieren zu lassen.

Es gibt in seinen Texten keine handelnden Subjekte, denen mit Entwicklungsdramaturgie oder linear sich entfaltender Expressivität beizukommen wäre. Expressivität kann nur mal eine Fährte sein, auf die der Zuschauer gesetzt wird, keine durchgehende Haltung, die - die Kraft der Worte verdoppelnd - überwältigen will, statt Raum zu schaffen. Ich rede allerdings jetzt nicht für eine trockene akademische Aufhebung Müllers in die Sphären leerer Konzertsäle und Seminare, sondern für eine Dramaturgie der Brechung, der diskontinuierlichen, sprunghaften, geschnittenen Vertonung, die auf ihre Weise den Materialumgang, mit dem auch Müller arbeitet, für das Medium der Musik oder des Theaters übersetzt.

Genau wie Müller seine Texte nicht erfindet, sondern vorfindet und verarbeitet zu einer Erfahrungsauseinandersetzung, muß sich der Komponist davor hüten, seine Texte zu subsumieren in private Entscheidungen (nach dem Motto: ich suche schon die ganze Zeit einen geeigneten Text für mein geplantes Streichquartett), oder ihnen mit musikalischen "Einfällen" zu Leibe zu rücken. (Ich meine mit Einfall eine letztlich inhaltlich nicht auf mehreren Ebenen absicherbare Phantasie des Komponisten.)

Alle Parameter des eigenen Komponierens, alle Selbstverständlichkeiten des eigenen Genres müssen auf ihre Gültigkeit und ihre Selbstreferenz untersucht werden. Schon die Frage nach der Haltung der Sängerin, letztlich sogar die ihrer Kleidung, ist da entscheidend. Alles erzählt doch mit.

Die Aufregung, mit einem Müller-Text zu arbeiten, besteht vor allem darin, sich von seiner syntaktischen Struktur, von der Summe seiner Mitteilungen, die musikalischen Formen bilden und Fragen des Komponierens beantworten zu lassen. Nur indem man die strukturellen Angebote seiner Texte zu musikalischen macht, kann man illustrativ interpretierendem Quatsch entgehen. Seine Texte haben zwar Libretto-Qualität, große Rhythmik und musikalisches Formbewußtsein, die alle wahrgenommen werden müssen. Aber man kann sie nicht auf ihre Klanglichkeit reduzieren; nur im Zusammenspiel mit ihrer Semantik etc. funktionieren sie. Sonst schieben sich andere Bedeutungsträger (Gesangskultur, Kulturapparat, Eitelkeit etc.) darüber.

Welche Texte können überhaupt gesungen werden, welche muß man sprechen, und dann: wer, wie?

Um nochmals auf das Bild der Bachfuge zurückzukommen: man muß sie eben ohne Pedal und ohne Rubati spielen, und das ist für Schauspieler wie für Opernsänger das schwierigste.

Warum also überhaupt Musik und Texte von Heiner Müller. Die Erfahrungen auf der Experimenta 6 scheinen zunehmend zu bestätigen, daß mit Ausnahme der Bühnenbildausstellung in der Schirn kaum eine Theaterveranstaltung dem Umgang mit seinen Texten gewachsen scheint. Immer wieder werden zwanghaft Figuren erfunden, vordergründige Plausibilitäten gesucht, die seine Texte "sprechbar" machen, und damit werden immer schon auch die Texte verschüttet. Daß die Ausbildung der Schauspieler kaum andere Möglichkeiten zuläßt, macht die Sache schier hoffnungslos, wäre da nicht die Musik (oder ein vergleichbarer rhythmischer, formgebender, antirhetorischer Ansatz), deren großer Vorzug es ja sein kann, über individuelle Formangebote, Zäsuren, Zustandsbrüche, Textplateaus, rhythmische Gesetzmäßigkeiten zu bieten, die das ICH in den Müllerschen Texten zur kollektiven Repräsentation werden lassen. Und das durchaus mit Sinnlichkeit und Emotionalität, die aber, ohne ihre im weitesten Sinne: musikalische Absicherung, aufgesetzt ins Leere laufen muß, weil sie vielleicht schon für das nächste Wort nicht mehr stimmt.

Dieser Text beruht auf einer Rede, die der Autor im Rahmen der Experimenta 6 gehalten hat.

in: fake 2, September 1990