2009, Heiner Goebbels
Text (de)

Mindestens schwer verzweifelt

Ein Essay über den Umgang mit der Stimme im zeitgenössischen Musiktheater

Erst die Arbeit an meinem jüngsten szenischen Konzert „I went to the house but did not enter“ für die vier Sänger des britischen Hilliard Ensembles stellte mich plötzlich vor die ungewohnte Frage nach dem Umgang mit der Stimme. Ungewohnt deshalb, weil es bislang für meine Hörstücke und Musiktheaterstücke vielleicht eine unbewusste gemeinsame Formel gab: die Arbeit mit eigentümlichen Stimmen. Da mir die standardisierten und akademischen Formen des Sprechens und Singens immer suspekt waren, scheint mir das zur Voraussetzung aller ästhetischen Mitteilungen überhaupt geworden zu sein.

So habe ich zwar die Stimmen mikrofoniert, geschnitten, gesampelt, geloopt, transponiert und verzerrt; sie von ihren Körpern und Ursachen abgelöst und mit ihnen wieder vereint; habe mit rauen, ungeübten, fehlerhaften, weichen, differenzierten, ehauchten Stimmen gearbeitet; mit jungen und alten Stimmen von Rauchern und Nichtrauchern; mit Stimmen, die nie schreien, selten rufen, wenig singen, meist sprechen; aber nie mit glatten Stimmen, sondern mit Stimmen, die vor allem eines sind: eigentümlich.

Afrikanische Stimmen aus dem Senegal zum Beispiel (Boubakar und Sira Djebate), Stimmen von Passanten (auf den Straßen in Berlin und Boston), die Stimmen meiner eigenen Kinder; iranische, griechische, brasilianische, amerikanische, flämische, kanadische, japanische und schwedische Stimmen (von Sussan Deyhim, Areti Georgiadou, Arto Lindsay, John King, Johan Leysen, Marie Goyette, Yumiko Tanaka, Charlotte Engelkes und Sven-Åke Johansson). Die vielen gebrochenen und virtuos immer wieder schnell und verblüffend neu zusammengesetzten Stimmen von David Moss und Catherine Jauniaux, auch die vielen Stimmen weniger Schauspieler (David Bennent, André Wilms, Ernst Stötzner, Josef Bierbichler), charakteristische Stimmen einiger Sängerinnen und Sänger (Georg Nigl, Jocelyn B. Smith, Walter Raffeiner, Dagmar Krause), Stimmen aus dem Off von Lebenden und Toten, von Autoren und Komponisten (Heiner Müller, Alexander Kluge, William S. Burroughs, Claude Lévi-Strauss, Hanns Eisler, Brian Wilson), Stimmen von Instrumentalisten (des Ensemble Modern, der London Sinfonietta), dokumentarische Stimmen jüdischer Kantoren (in „Surrogate Cities“), deutscher Polizisten und Demonstranten (in „Berlin Qdamm 12. 4. 81“), die Stimmen von Zikaden und Fröschen, Hunden und Vögeln sowie die Stimmen in den Geräuschen der Dinge natürlich – der Klaviere, Steine, Rohre, Metallplatten und des Wassers (in „Stifters Dinge“) – und die Stimmen all der Objekte in „Max Black“, die von der Bühne zurückgeworfen werden und sich plötzlich selbständig machen.

Bislang hatte ich also vornehmlich mit unverwechselbaren, eigenartigen Stimmen gearbeitet, die nicht ersetzbar, auch nicht
umbesetzbar sind. Kaum je mit akademisch ausgebildeten Stimmen, denen es seltener gelingt, mich zu berühren. Deren ästhetisches Ideal besteht ja im Gegenteil darin, einer Stimme das Eigene eher zu nehmen, das Persönliche bis zu einem gewissen Grad verschwinden zu machen – zugunsten klassischer Ausdrucksregister, die in Klangschönheit, Artikulation und Stimmsitz für eine virtuose Verfügbarkeit normiert sind. Dass auch jede klassisch ausgebildete Stimme trotz allem ihren Ursprung, ihren Körper letztlich nicht verleugnen kann, noch will oder soll, verweist nur auf die Stärke ihrer leiblichen Spur.
Abgesehen von der Unersetzbarkeit war es mir gerade mit diesen eigentümlichen Stimmen möglich, das große klangliche Spektrum menschlicher Laute hörbar zu machen: ein jäher, unwiederholbarer Ausdruck, ein riskanter Sprung, die gebrochene Stimme, der unverwechselbare Akzent; Flüstern, Zögern, Lachen und Seufzen, Räuspern und Ächzen am Rande des Geräuschs; die Fistelstimme oder die Fragilität ihres Überschlagens ebenso wie ein kraftvoller, ungeschönter Ruf oder die kunstvolle Verzierung. Sogar Multiphonics kann man hier finden, unfreiwillige und absichtsvolle. Nur auf andere Stimmen und Körper übertragen lässt sich das alles nicht. Auch wenn die Versuchung dazu groß ist.

Die Stimme ist kein Instrument

Zahllose Komponisten der Neuen Musik und des Musiktheaters der letzten fünfzig Jahre haben experimentell versucht, diesen vokalen Reichtum, der zu unserer Ausdrucks- und Erlebniswelt gehört und in dem die Stimme des ausgebildeten Sängers nur einen kleinen Ausschnitt darstellt, auszuloten, auszureizen, ihn weiterzutreiben, aufzuschreiben, aufführbar zu machen und damit weiterzugeben. Aber im Vergleich zu dem Reichtum dessen, was die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an klanglicher Materialentwicklung instrumental und elektronisch hervorgebracht hat, scheint mir der experimentelle Umgang mit der Stimme zumindest fragwürdig.Die experimentellen vokalen Register, die inzwischen für zeitgenössische Vokalmusik und das Musiktheater so charakteristisch geworden sind (die extremen Lagen, kühnen Sprünge, Verzerrungen, das Spiel mit den Lauten, mit sich verselbständigenden Melismen, das radikale Ausloten von Tonhöhen und Rhythmen, Vokalen und Konsonanten), sind von ihrer Körperlichkeit nicht zu trennen. Und vor allem nicht von den Ausdrucksregistern und Bedeutungsebenen, die in der Stimme immer mitschwingen. Das Resultat sind dann oft peinliche, alberne, lächerliche, hysterische, akustische Grimassen, die kein Bewusstsein davon vermitteln, was sie mit ihrer verzerrten Akrobatik tatsächlich einem unvoreingenommenen Publikum gegenüber ausdrücken und an Konnotationen provozieren. Das kann so nicht gemeint sein.

Bei Stimmvirtuosen, die um die eigene körperliche Identität und Plausibilität wissen – und David Moss, für den ich komponiert
und mit dem ich oft gearbeitet habe, hat das neben einigen wenigen anderen mit großer Musikalität und Resonanz unter Beweis gestellt –, ist das möglich. Die Übertragung einer solchermaßen anspruchsvollen vokalen Partie jedoch auf akademisch ausgebildete Sänger, die das so nicht für sich selbst entwickelt haben, erweist sich selten als glücklich.
Mir scheint fast, als ob im kompositorischen Prozess zwischen instrumentaler und vokaler Materialität nicht unterschieden
wird. Anders kann ich es mir nicht erklären. Man könnte die Neigung zu dem, was professionelle Zyniker mit dem „Hahnenschrei“ bezeichnen, fast einen Jargon nennen: eine aus der experimentellen und zunächst instrumentalen Kompositionstechnik resultie-rende und inzwischen institutionalisierte Fraglosigkeit, mit der ausgeklammert wird, was uns eine Stimme alles mitteilt. Kompositorische Maßnahmen, die instrumentale Klänge weit über die Grenzen des konventionellen Musizierens hinaus zutage gefördert haben, werden hier – man möchte fast glauben: gedankenlos – auf die vokalen (Un-)Möglichkeiten der menschlichen Stimme übertragen, ohne sich ihrer szenischen, theatralen Bedeutung bewusst zu sein. Offensichtlich sieht der Komponist – vollbeschäftigt mit der Erfindung von etwas „Noch-nie-Gehörtem“ – von der Wirkung dieser Ästhetik ganz ab. Oder er überprüft sie, wenn überhaupt, nur an seinem eigenen Körper – wo sie gelingen mag, weil sie dort ihren Ort hat. Auch Helmut Lachenmann ist aus diesem Grund sich selbst seine beste Stimme. Denn hier hat die musique concrète instrumentale ihre Grenzen: Die Stimme ist kein Instrument. Nur auf dem Papier.
Erklingt sie aber, ist sie das Kostbarste und Persönlichste, was wir haben. Virtuose Instrumentalität ist bei der Stimme schwer
erreichbar, obwohl durchaus schon in den Passionen und Kantaten von Bach zu finden. Sie braucht aber den kompositorischen Schutz und ästhetischen Kontext. Einer körperlich und szenisch quasi ausgesetzten, ausgelieferten, exaltierten Solopartie ist die Neutralität des Instrumentalen nicht vergönnt. Denn – darauf hat schon Roland Barthes hingewiesen – die Stimme kennt keine Neutralität; es gibt „keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus“. Und so manches Mal überwiegt Letzteres.

Die „verstimmte“ Stimme

Beim reinen Hören, das die Quelle der Stimme nicht kennt und sieht (also im Radio/auf CD/in der Zuspielung), können die Hörer noch zumindest versuchen, die körperlosen Laute rein klanglich, musikalisch, instrumental wahrzunehmen und dabei für einen Moment von ihrer Hervorbringung absehen. Aber die Stimme geht immer ein persönliches Vermittlungsverhältnis ein, das sie zum Anderen herzustellen versucht. Selbst beim Hören. Und wer auch noch mit eigenen Augen dabei ist und zuschaut, wie dieses Vermittlungsverhältnis verstellt ist – von den Bemühungen um die Erzeugung von Klängen, zu denen der eigene Körper des Sängers kein plausibles Verhältnis herstellen kann –, der ist schnell „verstimmt“.

Ich weiß nicht, wo das Missverständnis beginnt. Das wissen vielleicht die Musikwissenschaftler. Sicher beginnt es nicht bei
Alban Berg, der die Befreiung von der Tonalität in seiner Oper „Wozzeck“ für die zahlreichen vokalen Facetten nutzen konnte,
um die Differenzierungen einer der Alltagssprache abgehörten Sprachmelodie kompositorisch auszureizen – der also letztlich damit an einer, wenn auch forcierten, Plausibilität gearbeitet hat.

Vielleicht beginnt dieses Missverständnis da, wo versucht wird, die Laut-Erfindungen von Luciano Berio, die er zusammen mit der Sängerin (und seiner damaligen Frau) Cathy Berberian entwickelt hat, auf andere Sängerinnen und Sänger zu übertragen. Vielleicht beginnt hier ein sich ständig übertreffender Wettlauf von KomKompositionstechniken, die die Eigentümlichkeit der Stimme ignorieren und die implizite Forderung der Stimme nach einer körperlichen Plausibilität übergehen, und die sich in einer endlosen Kette unerträglich vokalakrobatischer Uraufführungen fortsetzen, die keinen anderen Respekt zulassen als den vor einer in mühevoller Kleinarbeit und mit hohem Originalitätsdruck auf Papier gebannten Partitur.

Vielleicht ist es auch gar kein Missverständnis, und es wird nur versäumt, die theatrale Konsequenz zu Ende zu denken, mit der – im Konzert wie auf der Opernbühne – die experimentelle Ausweitung des stimmliche Klangraums immer auch die Intensität eines Ausdrucks aufruft, der unserem Erfahrungsraum nicht unbekannt (also nicht fremd und künstlerisch herausfordernd) ist, sondern nur allzu schnell mit Vokabeln für entstellte Körper und monströse Emotionalität verbunden wird. Kein Wunder also, dass zum traurigen Resultat wesentlich die Regisseure beitragen, die die vokalen Partien der Protagonisten auf der Bühne des zeitgenössischen Musiktheaters als „Hysterie“, „Wahnsinn“, mindestens aber als „schwere Verzweiflung“ in Szene setzen, um damit die Atonalität dem Publikum gegenüber psychologisch zu motivieren.
So wird die vokale Ästhetik letztlich nicht für die künstlerische Erfahrung und die Imagination des Hörers frei, sondern sie wird schon durch die Inszenierung als „Abnormität“ denunziert. Wenn das Publikum das nicht sehen (und hören) will, ruft man ihm „Spießer!“ hinterher. Dass die Opernregie übrigens meist auch der Radikalität von nicht-linearen, nicht-narrativen Opern z. B. bei Zimmermann, Nono, Cage und Lachenmann nicht gerecht wird, sei hier nur am Rande erwähnt.

Es gibt für mich immer wieder, auch zurzeit, wundersame Ausnahmen: so z. B. bei Barbara Berger, der Protagonistin in Leo Dicks Oper „Kann Heidi brauchen, was es gelernt hat?“, in deren Gesangspartien das ihr vertraute Jodeln auf fremde und überraschende Weise eingewebt ist. Oder bei dem schottischen Schauspieler Graham Valentine in Enno Poppes „Arbeit Nahrung Wohnung“, der die schrägenGesangspassagen mit einer ihm eigenen Unzulänglichkeit und Intensität zum Leben erweckt und dagegen seine professionellen Gesangskollegen sehr „verzweifelt“ aussehen lässt – so virtuos sie auch sein mögen. Aber das sind Gesangspartien, die – ob nun auskomponiert oder verabredet – an die Materialität einzelner, eben eigentümlicher Stimmen gebunden sind, biografische Singularitäten.

Die vielen Stimmen des Ichs

Aus all diesen Gründen waren mir die experimentellen vokalen Register für das Hilliard Ensemble in „I went to the house but did not enter“ verwehrt. Hinzu kam, dass die Sänger an mittelalterlicher Sakralmusik geschult sind und ihnen vergleichbare experimentelle Erfahrungen fehlen. Gerade weil die Sänger ihre Konzerte in den letzten dreißig Jahren vor allem in Kirchen gegeben haben und noch keinerlei szenische Erfahrung hatten – also auch keine „falsche“ –, wollte ich auch mit ihnen und nur mit ihnen als Darsteller arbeiten. Bei der Suche nach Alternativen zu den konventionellen Präsenzkonzepten des Theaters und der Oper spielt für mich eine Art von „Abwesenheit“ eine wachsende Bedeutung. Diese fand in der Zurückhaltung der Sänger ihre wunderbare Ent sprechung, da mir die kleine Geste die Aufmerksamkeit der Zuschauer eher auf sich zu ziehen scheint als ein großes theatrales Getue.

Mir war auch die Verständlichkeit der Texte wichtig, die in verschiedenen Epochen des 20. Jahrhunderts von Eliot (1911), Blanchot (1948) und Beckett (1984) geschrieben worden sind. Bei aller Unterschiedlichkeit der Textsorten (Gedicht? Erzählung? Litanei?) haben sie doch eines gemeinsam: Sie verleihen einem fragmentierten, anonymen Ich viele Stimmen, bei denen sich aber der Leser nicht mehr auf fest umrissene Figuren und Rollen verlassen kann. Ihre Sprache verspricht keine Sicherheit. Und allen Texten ist das Misstrauen gegenüber linearen Erzählformen gemeinsam, auch wenn die Texte voller Geschichten sind. Diese Erzählungen geben ihren oft paradoxen Sinn nur preis, wenn wir sie als Zuhörer vervollständigen. So ist „I went to the house but did not enter“ vielleicht eine Reise, die von den unheroischen Protagonisten – „lauter Niemand“, wie Kafka sie nennt – gar nicht angetreten wird. Und sie spielt in drei Bildern, drei Zeiten, drei Räumen, die ortlos sind – also überall und nirgends.

Vielleicht kommen auch daher die Vorsicht bei meinen kompositorischen Maßnahmen und der Wunsch, den Rhythmus und
die Musikalität der Texte aufzudecken, hörbar zu machen (vor allem bei Eliot und Beckett), und ihnen nicht eine Ästhetik aufzusetzen, die ihnen äußerlich bleibt. Beim kritischen Blick in die zeitgenössische Opernpraxis erscheint doch oft das Verhältnis einer Komposition zum Text beliebig. Wird überhaupt die Frage gestellt, ob sich ein Text zum Singen eignet? Zu selten. Brecht hatte recht, als er konstatierte: „Die moderne Musik verwandelt Texte in Prosa, auch wenn es Verse sind, und lyrisiert dann diese Prosa. Die Lyrisierung ist zugleich eine Psychologisierung. Der Rhythmus ist aufgelöst (außer bei Strawinsky und Bartók), für das epische Theater ist das unbrauchbar.“ Diese Notiz aus seinem Arbeitsjournal hat sich als erstaunlich haltbar erwiesen.

Vor dem Hintergrund der Textauswahl hat mich eben etwas anderes interessiert als die Eigentümlichkeit, als die Unverwechselbarkeit einer gesteigerten Subjektivität. Nämlich die Frage danach, ob es vielleicht doch so etwas geben könnte wie eine „Neutralität“, die durch Zurücknahme entsteht? Die dadurch erst möglich wird, dass sich die vier Sänger für eine „fünfte“ gemeinsame menschliche Stimme zurücknehmen. Ob dadurch eine magische Stimme jenseits des individuellen Ausdrucks entstehen kann und damit quasi anknüpft an einen vorbarocken Begriff von Gemeinschaft? Ob die Summe ihrer Stimmen umschlagen kann in etwas, das den Texten gerecht wird, in denen ein Ich nicht mehr auszumachen ist? Ob dadurch die Körperlichkeit der Stimmen aufgehoben wird, obwohl die Sänger auf der Bühne stehen? Und die Worte selbst dabei zu dramatis personae werden?

in: Theater der Zeit, 1/2009, Berlin, p. 24-27
in: Österreichische MUSIKZEITschrift, 5/2009, Wien, p. 14-19
in: Der Blaue Klang, Hofheim 2010, p. 91-98
in: The Drama Review, NY, USA T 209 ("Peculiar Voices")
in: Martina Groß / Patrick Primavesi (Hrsgb): Lücken sehen, Heidelberg 2010, p. 285-291
on: I went to the house but did not enter (Music Theatre)