2009, Heiner Goebbels
Text (de)

Texte wie musikalisches Material

Über Heiner Müller

Auf die Frage, warum die Stücke Heiner Müllers auf den Spielplänen so rar sind, gibt es meist mitleidiges Lächeln, und viele Antworten; die beste gab er selbst - im Gespräch mit Ruth Berghaus über die Oper: „Ich habe ganz selten erlebt, daß ein Text von mir im Theater zu ertragen war, weil es fast unmöglich ist, Schauspieler dazu zu bringen, daß sie einen Text wie ein musikalisches Material behandeln. Was er natürlich ist. Erst dann wird er auch rezipierbar.“ Was heißt das? Texte wie musikalisches Material behandeln? Sich dem Klang zu widmen, den Rhythmus ernst zu nehmen, die Sprachmelodie zu untersuchen, die Struktur hörbar zu machen und den Inhalt nicht zu verdoppeln, sondern ihn sich ereignen zu lassen – gewiß. Aber auch: den Text nicht zu bebildern und zu verkörpern, damit ihm die Chance bleibt beim Hören durch die Köpfe und Körper der Zuschauer zu gehen. Vor allem aber spielt er damit auf die Offenheit des musikalischen Hörens an - bei gleichzeitiger Intensität. Musik ist ein Topos für die Offenheit von Bedeutung. Und sie hat so viele Bedeutungen wie Hörer. Und es gibt sie auch bei Heiner Müller nicht: die eine Bedeutung - auf deren Suche die Regisseure so oft sind, und diese gefunden zu haben die Schauspieler gerne zur Schau stellen. Aber auch darin liegt ein politischer Kern: „Dieser Entzug von Bedeutung ist ganz wichtig, den Leuten die Möglichkeit zu nehmen, eine Sache auf eine Bedeutung festzunageln.“ Denn daß man den Dingen den Verhältnissen, den Menschen und ihren Worten (auch Müllers Texten) nicht so einfach ansieht, wie mit ihnen umzugehen ist - daß man den schnellen Einordnungen mißtraut, vor allem den eigenen – auch das kann man von Heiner Müller mitnehmen. Also Theater zu machen, das - wie Musik – immer auch Rätsel bleibt und uns zu einer künstlerischen Erfahrung einlädt, nicht zur Botschaft, das ist die Chance seiner Texte. Deswegen kann man sie auch immer wieder lesen, immer wieder neu, wie die Goldbergvariationen von Bach. Das ist Irritation und Vergnügen. Daß der Inhalt, der ‚Sinn’, d.h. alle möglichen darin enthaltenen Sinnebenen dabei verloren gehen, das muß man bei Müller nicht fürchten. „Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, ist er für das Theater produktiv oder interessant...es gibt genug Stücke, die das Theater, so wie es ist, bedienen, das braucht man nicht neu zu machen “ Heiner Goebbels, November 2008, für einen Band zum 40jährigen Jubiläum des Verlags der Autoren Alle Zitate aus „Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer“ Bd.1-3

in: überEinander, Verlag der Autoren, Frankfurt am Main, p. 145f