3/1998, Heiner Goebbels
Text (de)

Haltung & Tempo

Mich interessieren in diesem Kontext drei Punkte, über die ich gerne genauer Auskunft geben würde. 1. Ich bemerke bei den akademisch orientierten Festivals einen Trend zur Öffnung von Veranstaltungen, der Trend zum Genresprung, weil man aus dem engen Kapitel der akademischen neuen Musik raus will. Das habe ich als sehr dilettantisch, halbherzig und in der Regel zum Scheitern verurteilt erlebt. Veranstalter verkennen, daß in dem Moment, wo sie in ihrem Programm einen anderen Bereich zitieren, sie in aller Regel nicht die Gesetze kennen, die in diesem Bereich gültig sind. Sie wissen nicht, wie sie ein anderes Publikum erreichen, das nicht das Kleingedruckte ihres zeitgenössischen Musikfestivals liest. Sehr vielen Veranstaltern gelingt nicht, durch das Zitat der Programmierung tatsächlich eine Veränderung im Festival zu erreichen. Darunter leiden wir Musiker sehr. Es gibt dann immer wieder Fälle, wo man z.B. in die Kölner Philharmonie kommt, zu den Maifestspielen nach Wiesbaden oder zu den Dresdner Tagen für Zeitgenössische Musik und dann mit einem sehr teuren Ensemble vor leeren Bänken spielt, weil das Festival es nicht verstanden hat, auch die anderen Kriterien, zum Beispiel den Raum oder die Atmosphäre (die bestimmte Konzerte brauchen), die Öffentlichkeitsarbeit (die notwendig ist, um andere Szenen zu erreichen) mitzudenken. 2. Unter den ja allenthalben diskutierten Zeiten ökonomischer Verknappung zeigt sich auch welche Veranstalter überhaupt professionell arbeiten können. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, daß Veranstalter über einen großen Fundus an finanziellen Mitteln verfügen, aber sich über viele Fragen ihres Veranstaltungskonzepts wenig Rechenschaft ablegen müssen. In Zeiten einer genaueren Kalkulation stellt sich heraus, wie dilettantisch oft gearbeitet wird, gerade auch an großen Institutionen wie bei den Berliner Festspielen oder der Frankfurter Alten Oper. Da könnte ich viele Geschichten erzählen. 3. Ich habe den Eindruck, daß nicht in allen Fällen von Veranstaltungsformen, die hier diskutiert wurden, tatsächlich das Publikum im Blick ist. Das gesteigerte Tempo des Verwertungskarussells äußert sich zu Beispiel darin, daß man zunehmend gezwungen ist, Uraufführungen zu machen; Veranstalter haben, so gesehen, nur die Presse oder Sponsoren im Blick. Das heißt, etwas, das in Berlin schon war, kann in Dresden nicht mehr aufgeführt werden usw. Eine wunderbare Geschichte, ein alpenländisches Beispiel sozusagen, habe ich in Graz erlebt: Ich habe vor zwei Jahren für die Junge Deutsche Philharmonie "Surrogate Cities" geschrieben, ein 90 minütiges Stück für 90 Musiker. Das war programmiert u.a. für den Steirischen Herbst in Graz. Wenige Monate vorher bekam ich von dem damaligen Leiter einen Anruf, ob ich das umschreiben könne für Graz. Premiere war zuvor in Frankfurt im September. "Wieso umschreiben?" "Ja, es müßte doch für Graz eine Uraufführung sein. Wenn es vorher schon in Frankfurt und Berlin war ...". Ich habe dann gesagt: "Nein, ich arbeite seit einem Jahr an diesem Stück. Ich könnte höchstens die Reihenfolge der Stücke ändern, aber ich halte das persönlich für unseriös." Darauf er: "Dann müßte es aber auch einen anderen Titel haben!" Das war natürlich völlig indiskutabel. Aber das sind Diskussionen, mit denen man sich auseinandersetzen muß. Die Aufführung in Graz fand nicht statt, weil es keine Uraufführung war. Das war sozusagen der verschärfte ökonomische Druck, der vielleicht auf diesem Festival gelastet hat, aber es war auch ein unglaubliches Ausmaß an Dilletantismus und Ignoranz im Umgang mit einem Kunstprodukt. Das Tempo, mit dem man Neues produzieren muß, nagt doch entscheidend an der Qualität der Werke.

in: Der Trend zum Event - Dokumentation der Saalfeldner Musiktage 1996 (Saalfelden: Schriftenreihe zeitgenössischer Musik, Band 3, 1998)