3 March 2001, Hans-Jürgen Linke, Frankfurter Rundschau
Review (de)

Wie aus Material neues Leben entsteht

Endlich auch in Frankfurt: Heiner Goebbels' "Eislermaterial" mit dem Ensemble Modern im Bockenheimer Depot

Hanns Eisler ist in Frankfurt ein populärer Komponist. Das war im Bockenheimer Depot nicht zu übersehen und hängt eng mit Heiner Goebbels, Alfred Harth und dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester der siebziger Jahre zusammen. Wenn also - neben Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod - je ein Stück in Frankfurt aufgeführt gehörte, dann Goebbels' szenisches Konzert Eislermaterial. Fast drei Jahre nach der Uraufführung ist es nun endlich hier angekommen. Für viele Frankfurter sind Eislers Lieder vertraute Stücke, die sie früher immer schon mal gehört haben und zu denen sie jetzt endlich, von Sepp Bierbichler gesungen, den Text hören (Vom Sprengen des Gartens, Über den Selbstmord) oder zu denen sie den Text von früher her noch kennen, weshalb er jetzt nicht gesungen werden muss (Einheitsfrontlied). Heiner Goebbels' Collage ist das Ergebnis einer intensiven und sehr persönlichen Auseinandersetzung mit Hanns Eisler, will aber keinen bilanzierenden Schlussstrich ziehen und ist der seltene Fall einer nicht-ironischen Collage. Jede Brechung, die sie enthält, jede offene Frage, auf die sie weist, jede abrupte Kehrtwendung bereichert das Gesamtbild, zerstört aber nie einen Zusammenhang. Wahrscheinlich enthält dieses von ehrlicher Verehrung grundierte musikalische Denkmal für Eisler das Maximum an positivem Pathos, zu dem Goebbels mit seinem ästhetisches Handwerkszeug fähig ist. Das Geheimnis der Collage ist ihre Nahtlosigkeit, und Goebbels ist ein Meister der Übergänge und der rhythmisierenden Schnitte. Mit äußerster Eleganz und Intelligenz hat er aus O-Tönen vielstimmige Gespräche Eislers mit sich selbst und mit seinen Hörern geformt, und ohne dass sich ein ästhetisches Programm inhaltlich entfalten müsste, entsteht der Eindruck von Weisheit und Witz. Er entsteht wie eine Lebensform aus einer Summe kleiner, sorgfältig geplanter chemischer Details. Das Stück ist eine musikalische Fragestunde von Heiner Goebbels und dem Ensemble Modern an Hanns Eisler und die Geschichte. Es produziert über die gesamte Dauer eine emotionale Bewegung und eine profane Ergriffenheit, wie man sie sich als mit allen Wassern gewaschener Konsument der Moderne sonst kaum je gestatten würde - als hätte jemand aus Hanns Eislers eigenem Material dessen An die Nachgeborenen postum geschrieben. Die bruchlosen Intensität dieser vielfältig gebrochenen Hommage-Komposition hat ihren wichtigsten Grund in dem Volkston, den Eisler in seinen Liedern gefunden hat und für die Texte von Brecht ein wesentlicher Beitrag waren. Eine seltene Konstellation, die in den siebziger Jahren das Sogenannte Linksradikale Blasorchester und das Goebbels/Harth-Duo aus ihrer Einmaligkeit erlösen wollten. Aus dem musikalisch-politischen Ansatz von damals ist Musiktheater geworden - wahrscheinlich eine unvermeidbare Entwicklung. Das Ensemble Modern trifft mit größter Hingabe und Präzision sowohl die eingängig blechernen wie die komplex modernen Anteile der Musik und zeigt dabei eine authentische Bühnenpräsenz. Die Musik bildet mit der Haltung der Musiker jene von Eisler postulierte Einheit so organisch, dass man fast das Kunstvolle der Inszenierung übersehen möchte. Sepp Bierbichler singt mit klarer, nicht sehr spezifischer süddeutscher Einfärbung, intonationssicher und ausdrucksvoll, mit ungekünstelter Schauspieler-Singstimme. Das Markig-Arbeiterbewegte der alten Zeiten ist bei ihm zu einer warmen menschlichen Geste destilliert, das Anklagende (Vier Wiegenlieder der Arbeitermütter) gewinnt in der historisierenden Inszenierung an emotionaler Dichte. Selten war Eisler näher als jetzt im Bockenheimer Depot.

on: Eislermaterial (Music Theatre)