1 January 2000
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Seit einem Jahrzehnt arbeitet der Frankfurter Komponist Heiner Goebbels in Konzerten mit dem Ensemble Modern zusammen, das mehrere seiner Kompositionen zur Uraufführung brachte. In monatelanger Probearbeit entwickelte er 1996 mit dem berühmten Ensemble junger Musiker verschiedener Nationen erstmals fürs Musiktheater das Projekt "Schwarz auf Weiß" im Frankfurter Theater am Turm. Ein Stück ohne Protagonisten, bei dem das Ensemble selbst der Protagonist ist. Die jungen Musiker werden zu bewegten Hör-Spielern, die in szenischen Aktionen ihr vertrautes Instrument nicht selten gegen andere Instrumente oder signifikante Geräuschquellen vertauschen. Der Kunstraum des Musiktheaters wird zum Spielraum des Alltags. - Die Kritik sprach von einem der wichtigsten Bühnenereignisse des Jahres und erkannte in dem Stück ein 'Requiem' auf Heiner Müller, der durch seine Stimme präsent ist - in einer Lesung von Edgar Allan Poes Todes-Parabel "Schatten": "Du, der Lesende weilst noch unter den Lebendigen; ich, der Schreibende aber habe längst meinen Weg ins Reich der Schatten genommen." Heiner Goebbels hatte diese Aufnahmen bereits 1991für die SWF-Synchronisation seines amerikanischen Hörstücks 'Shadow/Landscape with Argonauts' gemacht und spontan entschieden, sie in die aktuelle Arbeit einzubeziehen, als er während der Proben vom Tode Heiner Müllers hörte. Unter allen musikalischen Hörstücken von Heiner Goebbels ist sein scheinbar "textärmstes" zugleich sein literarischstes. "Schwarz auf Weiß" nämlich handelt von Literatur im buchstäblichen Sinne, gelöst vom literarischen Detail und ohne ins Reich der Fiktionen zu führen. "Für mich ist 'Schwarz auf Weiß' und auch Poes 'Schatten' eine Parabel über das Schreiben, oder genauer über eine Form von Kunst, in der nicht nur eine Stimme zu Wort kommt - der Schriftsteller etwa -, sondern so etwas wie eine kollektive Stimme, ein kollektives Ich, Erfahrung, Erinnerung. Diese Art von Schreiben hat für mich Heiner Müller repräsentiert, weswegen ich immer wieder gerne mit seinen Texten gearbeitet habe." (Heiner Goebbels.) Eine unruhige Hand beginnt einen Text zu fixieren, der von der Irritation des Schreibens handelt: den Anfang von Maurice Blanchots Roman "L'attente I'oubli" ("Warten, Vergessen"). Die Stimme des Schreibenden formuliert und repetiert das, was auf dem Resonanzboden 'Schreibtisch' entsteht. Solche Mikroakustik von Schreibbewegungen setzt sich in musikalischen Klanggesten fort und in räumlichen Aktionen, die auf akustische Pointen hinauslaufen, den Raum gewissermaßen akustisch beschriften und markieren. Diese höchst lebendigen (und also vergänglichen) Hörräume aber stellen sich im kollektiven Zusammenspiel her, während die zitierten Texte von Blanchot, Eliot und Poe von einzelnen Ensemblemitgliedern in ihrer Muttersprache ins Spiel gebracht werden, freistehend wie erratische Blöcke. Die Texte handeln selbst von Vergänglichkeit , von der Einsamkeit des Schreibens, von der Flüchtigkeit der Stimme und vom Verschwinden des Autors. Die wiederkehrende Stimme des Hörstücks ist die Tonbandstimme von Heiner Müller. "Thematisch ist es für mich eine Art Abschied von Heiner Müller. Aber es ist kein Abschied in Form eines traurigen Requiems. Es gibt in dem Stück durchaus Leichtigkeit und Humor. Und da ist auch eine Balance zwischen dem Charme eines Live-Ereignisses und der Reflexion. So etwas geht nur mit hervorragenden Musikern wie denen des Ensemble Modern, die nicht nur ihre eigentliche Profession ausüben, sondern auch szenisch agieren, sprechen, singen etc." (Heiner Goebbels) (Hans Burkhard Schlichting) Hier, und zwar bei diesem Satz, der ihm vielleicht auch noch bestimmt war, sah er sich genötigt innezuhalten. Er hatte sie beinahe sprechen hören, als er die Aufzeichnungen begann. Beim Schreiben noch hörte er ihre Stimme. Er zeigte ihr das Geschriebene. Sie wollte nicht lesen. Sie las nur ein paar Stellen, und auch nur, weil er sie sanft darum bat. "Wer spricht hier?" sagte sie. "Wer spricht denn hier?" Sie meinte, es liege ein Irrtum vor, den sie nur nicht näher bestimmen konnte... (Maurice Blanchot: Warten, Vergessen - Übersetzung: Johannes Hübner) SCHATTEN - Eine Parabel Wahrlich, ob ich auch wandele durch das Tal des Schattens - Psalm Davids Du, der Lesende, weilst noch unter den Lebendigen; ich, der Schreibende aber, habe längst meinen Weg ins Reich der Schatten genommen. Denn das ist gewiß, seltsame Dinge werden geschehen und geheime Dinge aufgedeckt werden, und viele Jahrhunderte werden vergehen, ehe diese Aufzeichnungen den Menschen vor Augen kommen. Und unter denen, die sie sehen, werden manche Ungläubige sein und manche Zweifler und dennoch einige wenige, denen die Schriftzeichen, die ich hier mit stählernem Griffel grabe, viel zum Sinnen geben sollen. Das Jahr war ein Jahr des Schreckens gewesen und der Empfindungen, die noch stärker sind als die Schrecken, für die es auf Erden keinen Namen gibt. Denn viele Zeichen und Wunder waren geschehen, und fern und nah, über Meer und Land, hatten sich die schwarzen Schwingen der Pest ausgespannt. Für jene aber, die in den Sternen zu lesen wußten, war es ersichtlich, daß die Himmel einen bösen Anblick boten, und mir, dem Griechen Oinos, wurde es gleich andern klar, daß nun die Wende des siebenhundertvierundneuzigsten Jahres gekommen war, da beim Eintritt des Widders der Planet Jupiter vom roten Ring des schrecklichen Saturn umschnitten wird. Wenn ich nicht irre, so äußerte sich der seltsame Geist der Gestirne nicht nur im physischen Lauf der Erde, sondern in der Seele, der Vorstellungsund Gedankenwelt der Menschen. Wir saßen nachts, unser sieben, bei einigen Flaschen roten Weines in einer edlen Halle der düsteren Stadt Ptolemais. Und der Raum besaß keinen andern Eingang als durch eine hohe, erzene Pforte; und der Künstler Corinnos hatte die Pforte gebaut, es war ein kunstvolles Stück, das von innen geschlossen wurde. So hielten auch schwarze Vorhänge dem düsteren Gemach den Anblick des Mondes fern, der fahlen Sterne und menschenleeren Straßen - das Vorgefühl und das Gedenken des Unglücks aber ließen sich nicht so aussperren. Es gab auch Dinge um uns her, von denen ich nicht deutlich Rechenschaft geben kann - materielle und geistige Dinge - eine Dichtigkeit der Luft - ein Gefühl des Erstickens - eine Beängstigung - und vor allem den schrecklichen Zustand, den nervöse Menschen durchmachen, wenn die Sinne scharf und wachsam sind, die Macht des Gedankens aber gebannt liegt. Eine tote Last drückte auf uns. Sie lastete auf unsern Gliedern - auf den Gegenständen im Raum - auf den Bechern, aus denen wir tranken, und alle Dinge wurden schwer davon und bedrückt - alle Dinge, bis auf die Flammen der sieben Lampen aus Erz, die unser Fest beleuchteten. Sich aufreckend zu hohen, schlanken Lichtstreifen, brannten sie bleich und regungslos, und in dem Spiegel, den ihr Glanz auf den runden Ebenholztisch warf, an dem wir saßen, gewahrte jeder von uns die Blässe seines eigenen Angesichts und das unruhige Flackern in den gesenkten Blicken seiner Gefährten. Dennoch lachten wir und waren fröhlich auf unsre eigne Weise - die hysterisch war, und sangen die Lieder des Anakreon - was Wahnsinn war, und tranken tiefe Züge - obgleich der purpurne Wein uns an Blut gemahnte. Denn da war noch ein Gast in unserm Gemach in Gestalt des jungen Zoilus. Tot und in seiner ganzen Länge lag er da, eingesargt - der Geist und der Dämon der Szene. Ach! Er nahm keinen Teil an unsrer Lust, nur daß sein Antlitz, von der Seuche verzerrt, und seine Augen, in denen der Tod die Glut der Pest nur halb gelöscht hatte, unsrer Fröhlichkeit ein gewisses Interesse zuzuwenden schienen, wie die Toten es für die Heiterkeit derer, die noch ans Sterben kommen, wohl haben mögen. Doch wenngleich ich, Oinos, fühlte, daß die Blicke des Abgeschiede~en auf mir ruhten, so zwang ich mich dennoch, die Bitterkeit ihres Ausdrucks nicht zu beachten, und standhaft in die Tiefen des ebenholzenen Spiegels spähend, sang ich mit lauter und klangvoller Stimme die Lieder des Sängers aus Teos. Doch allmählich hörten meine Lieder auf, und ihr Echo, das sich weit hinten in den schwarzen Behängen des Raumes verlor, wurde matt und undeutlich und starb dahin. Und weh! aus den schwarzen Behängen, darin die Töne des Liedes erstarben, kam ein dunkler und unbestimmbarer Schatten hervor - ein Schatten, wie ihn der Mond, wenn er tief am Himmel steht, aus der Gestalt eines Menschen bilden mag; aber es war weder der Schatten eines Menschen noch der Schatten eines Gottes oder irgendeiner vertrauten Sache. Er durchzitterte eine Weile die Vorhänge im Raum und kam schließlich auf der Fläche der erzenen Pforte in voller Sicht zur Ruhe. Doch der Schatten war flüchtig und formlos und unbestimmt und war keines Menschen und keines Gottes Schatten - nicht eines Gottes der Griechen noch eines Gottes der Chaldäer noch irgendeines ägyptischen Gottes. Und der Schatten ruhte auf der erzenen Pforte und unter dem Bogen des Türgebälks und rührte sich nicht, sprach kein Wort, sondern ließ sich dort nieder und verblieb da. Und das Tor, auf dem der Schatten ruhte, war, wenn ich mich recht erinnere, genau gegenüber den Füßen des eingesargten jungen Zoilus. Wir aber, die sieben dort Versammelten, die wir den Schatten gewahrt hatten, wie er aus den Vorhängen heraustrat, wagten nicht, ihn anzusehen, sondern senkten die Blicke und spähten beständig in die Tiefen des Ebenholzspiegels. Und endlich wagte ich, Oinos, einige leise Worte und fragte den Schatten nach seiner Herkunft und seinem Namen. Und der Schatten entgegnete: "Ich bin SCHATTEN, und ich hause bei den Katakomben von Ptolemais und dicht an den düstern Feldern von Helusion, die an die trüben Wasser des Charon grenzen." Und dann sprangen wir sieben erschrocken von unsern Sitzen und standen bebend und schaudernd vor Entsetzen: denn die Klänge in der Stimme des Schattens waren nicht die Klänge irgendeines Wesens, und von Silbe zu Silbe die Laute wechselnd, trafen sie dunkel an unser Ohr im unvergeßlichen, vertrauten Tonfall vieler Tausender dahingegangener Freunde. (Edgar Allan Poe - Übersetzung: Gisela Etzel) Der Leichnam, den du letztes Jahr gepflanzt hast, Keimt er? Wird er blühen dieses Jahr? Oder hat der Frost sein Bett entstellt ?Haltet den Hund fern, der den Menschen Freund ist, Daß er ihn nicht ausgräbt mit seinen Nägeln! (John Webster, zitiert nach T. S. Eliot: The Waste Land, 1 - The Burial of the Dead - Übersetzung: Heiner Müller ausgenommen Zeile 3)

on: Schwarz auf Weiss (Music Theatre)