22 September 2003, Patrick Müller, Tages-Anzeiger
Review (de)

Von der Freiheit des Denkens

Mit "Surrogate Cities" von Heiner Goebbels fand das Lucerne Festival seinen Abschluß.

Heiner Goebbels ist gerade auch als Musiker ein Mann des Theaters. Bei seinen Kompositionen für die Konzertbühne ist dies schon äußerlich hör-, mehr noch sichtbar. In seiner abendfüllenden Komposition "Surrogate Cities" für Solisten, Sampler und Orchester, das am Samtag den frenetisch umjubelten applaudierten Abschluß des Lucerne Festival bildete, ist die Form des Sinfoniekonzerts gleichsam ins theatralische erweitert. Einzelne Orchestergruppen werden im wörtlichen Sinne ins Rampenlicht gestellt, eine Lightshow im abgedunkelten Konzertsaal sorgt für Stimmungen, da etwa, wo hellrotes Licht nach und anch die Bühne in Beschlag nimmt. Lichtführung und damit das In-Szene-Setzen von Musik jedenfalls ist ein integraler Bestandteil von Goebbels Partitur. Doch die Orientierung an Theater und Inszenierung reicht weiter, bis in den Schaffensprozeß selbst hinein: Goebbels arbeitet nicht im stillen Kämmerlein. Vielmehr sind seine Interpreten Teil eines Teams, das sich bei der Erarbeitung eines neuen Werkes am Arbeitsprozeß maßgeblich beteiligt. Ohne die Vorarbeiten mit dem Ensemble Modern, das die Materiallieferungen Goebbels` oft selbsttätig weiterdenkt und –schreibt, oder ohne den Vokalisten und Schlagzeuger David Moss wäre "Surrogate Cities" wohl undenkbar. Und auch wo die Musik vom Komponisten selbst stammt, hat er sie teilweise durch seinen Assistenten Ali N. Askin arrangieren und instrumentieren lassen. Goebbels` Theater für die Konzertbühne allerdings braucht Figuren. In "Surrogate Cities" ist es neben der vokalen Akrobatik eines David Moss die Stimme der amerikanischen Soul- und Jazzsängerin Jocelyn B. Smith, und immer wieder ist es der Sampler. Im weiten Sinne könne man Bert Brecht und Heiner Müller als geniale Sampler-Spieler beizeichnen, meinte Goebbels einmal, weil sie nämlich eher eine Perspektive auf das Vorgefundene suchen als Originalität und Individualität. Der Sampler erfindet nicht, er findet. Und Goebbels such nicht nach der Neuheit des Materials, sondern er kombiniert und rekombiniert, was ihm begegnet. Oft liegt dies weit auseinander. In der zentralen Chaconne (Kantorloops) der Samplersuite beispielsweise, die ihrerseits das gewichtige Zentrum von "Surrogate Cities" bildet, sind es urtümliche Gesänge jüdischer Kantoren, festgehalten auf dem kratzenden Speichermedium der Schallplatte, die mit Hilfe modernster Sampletechnik bearbeitet, in eine barocke musikalische Form gegossen und von einem Klangkörper begleitet werden, dessen historischer Ort sich irgendwo im 19. Jahrhundert befindet. Daß die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle sich dabei in einem Hightech-Saal präsentieren, der sich in seiner ästhetischen Haltung an der vorletzten Jahrhundertwende orientiert, erhöht nur die verfremdete Spannung, um die es Goebbels geht. Die Widersprüchlichkeit der Gegenwart und die Freiheit des Denkens, die sich aus solcherart bearbeiteter Geschichte ergeben mag.

on: Surrogate Cities (Composition for Orchestra)