17 September 2007, 3sat Kulturzeit (TV)
Feature (de)

Der Reiter durch den Text

Heiner Goebbels inszeniert Adalbert Stifters Naturliteratur in Lausanne

Mittagspause am Genfer See - Heiner Goebbels kann sie nun genießen. Sechs Wochen Probenarbeit im Lausanner "Théâtre Vidy" liegen hinter ihm. In seiner Heimatstadt Frankfurt/Main hat der Komponist und Theatermacher nicht die Produktionsmöglichkeiten, um seine Musiktheaterstücke zu erarbeiten. Die aber fand er in der Schweiz.

"Stifters Dinge" ist der Titel seiner neuesten Arbeit. Ein Stück ohne menschliche Akteure, inspiriert von den Naturbeschreibungen Adalbert Stifters. Diesmal hat Heiner Goebbels etwas völlig Neues gewagt - ein Stück, in dem die Requisiten die Hauptrolle spielen: das Licht, die Bilder, Geräusche, Töne, Wind und Nebel, Wasser und Eis. Das Motto ist: Keine Psychologie auf der Bühne!

Das Dekor erzählt

"Ich möchte mit dem Stück versuchen, ob die Mittel, die Theater auf der Bühne hat, die aber nur als Dekor oder Illustration vorkommen, nicht auch erzählen können, uns nicht auch berühren können, einen Charme haben oder uns anziehen", erklärt Goebbels. Es ist ein Stück gegen die mediale Bilderflut. Man schaut dem Lauf des Wassers zu und lauscht dem ständigen Wechsel der Töne. Es gibt keine menschliche Aktion, mit der man sich identifizieren könnte. Nur manchmal kommen Stimmen vor: Tondokumente der Ethnografie etwa, zum Beispiel aus Papua-Guinea. Das sind Fundstücke aus einer rätselhaft fernen Welt, die Goebbels auch in den Texten von Stifter fand: die genaue Beschreibung unbekannter, fremder Dinge.

"Stifter ist ja eine sehr widersprüchliche Figur", erklärt Goebbels. "Wir haben ihn als langweilig empfunden, als wir in der Schule seine Texte lesen mussten. Das hat damit zu tun, dass die Handlung nie richtig spannend vorangeht." Dabei mache er doch etwas sehr Aufregendes: "Eine Entschleunigung, er verlangsamt das Tempo, er zwingt uns, wenn etwa ein Reiter durch den Wald reitet, den Wald so genau anzusehen, wie das ein Reiter möglicherweise tun muss, er macht den Leser zum Reiter durch den Text. Er zwingt uns zur Aufmerksamkeit gegenüber der Natur oder ökologischen Katastrophen und gegenüber Dingen, die uns fremd sind und unbekannt erscheinen und die nennt er auch immer Dinge."

Selten sieht man, was man hört

Ein seltsames Geräusch begleitet diesen Stifter-Text: Es stammt von einer Steinplatte, die über andere Steinplatten gezogen wird, übertragen von einem Mikrofon und im Computer bearbeitet. Alle Geräusche und Töne werden von den beweglichen Gegenständen im Bühnenraum erzeugt. "Mich interessiert die Klangqualität sehr, wenn ein Stein über andere Steine rutscht", sagt Heiner Goebbels. "Deswegen habe ich mir diese Konstruktion bauen lassen. Und man muss sagen, viele Klänge haben wir überhaupt erst bei der Arbeit entdeckt, zum Beispiel das Blech, wenn es gedreht wird. Eigentlich kommen alle Klänge, die wir hören, aus den Materialien, auf die wir auch den Blick richten wollen." Heiner Goebbels ist kein Komponist, der eine fertige Partitur zur Aufführung mitbringt. Alle seine Stücke entstehen in wochenlanger Zusammenarbeit mit den Beteiligten. Zahlreiche Vorrichtungen entlocken den fünf Klavieren ungewohnte Töne. Doch welcher Klang passt zu welcher Bewegung? Nur selten entdeckt man eine Synchronität. Nur selten sieht man, was man hört.

"Das Hören kann dem Sehen widersprechen, das haben wir in der Arbeit gerade festgestellt", sagt Goebbels. "Ich glaube, wenn wir uns die Dinge, um mit Stifter zu reden, nicht selbst zusammensetzen, sondern sie als zusammengesetzt präsentiert bekommen, dann machen wir auch nicht wirklich eigene Erfahrungen. Und Theater muss die Möglichkeit erlauben, eigene Erfahrungen zu machen. Und daran arbeiten wir.“ Auch Heiner Goebbels’ neues Stück spielt mit der Wahrnehmung des Betrachters. Man sucht nach Orientierung, und wird niemals so richtig fündig. Nichts passt so recht zusammen, doch man kommt aus dem Staunen nicht heraus. "Stifters Dinge" ist in seiner schönen verspielten Harmlosigkeit ein radikales Stück: Man wird auf sanfte Art gezwungen, die eigene Wahrnehmung zu ändern, anders hinzusehen und hinzuhören, und: Es ist niemals langweilig.

on: Stifters Dinge (Music Theatre)