31 October 2004, Andreas Klaeui, NZZ am Sonntag
Interview (de)

Das Geheimnis der Leichtigkeit

Der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels über Klangbilder und Sinnbilder, über elitäre Kunst, die Zugänglichkeit seiner Werke und über seinen Theaterabend "Eraritjaritjaka". Damit gastiert er vom 4. bis 6. November im Schauspielhaus Zürich.

Freundlich giesst er Tee nach und hilft sanft, wenn sich der Interviewer beim Stücktitel wieder mal verhaspelt: "Eraritjaritjaka", sagt Heiner Goebbels mühelos. "Wir machen's gleich noch mal: Eraritjaritjaka." So heisst sein jüngster Theaterabend, der in Lausanne herauskam und nun auch in Zürich zu sehen ist. Das Stück mit dem unaussprechlichen Titel ist Elias Canetti gewidmet; der fand die Wendung bei australischen Ureinwohnern. Schön ist ihre Bedeutung: "Beseelt vom Verlangen nach etwas Verlorenem".
Etwas nachhängen: Vielleicht kann man Heiner Goebbels' Musik-Theater auf diesen gedanklichen Nenner bringen. Er breitet Fundstücke aus und denkt ihnen nach, wie jetzt Canettis Aperçus. Dennoch ist sein Theater nie nur Gedankentheater. Es ist ein Theater der Bilder, der rhythmisierten Bühnenbilder, virtuosen Klangbilder, rätselhaften Sinnbilder. Der poetischen Theaterbilder, die sich wechselseitig kommentieren. Seine Musik kennt verschiedene Idiome, asiatische Klänge so gut wie lineare Pop-Beats und kreisende Minimal-Schlaufen. Er geht als Komponist nicht an avantgardistische Grenzen, er will verstehbar bleiben.
In der Wohnung schmale hohe Räume, Stuckdecken, ein Esszimmer mit Kerzen, nebenan ein Flügel, im Bücherzimmer auch ein Billardtisch. Heiner Goebbels wohnt in einem jener wunderbaren Häuser im Frankfurter Westend, die es heute nicht mehr gäbe, wenn die jungen Spontis um Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer sie nicht einst besetzt hätten. Wie seine Ex-Mit-Rabauken ist auch Goebbels in den Institutionen weit gekommen. Der Mitbegründer des "sogenannten Linksradikalen Blasorchesters", der erst Soziologie studierte, bevor er sich der Musik zuwandte, ist als Künstler arriviert. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, war 2003 residierender Komponist beim Lucerne Festival und arbeitet mit der Crème der Interpreten wie dem Ensemble Modern, den Berliner Philharmonikern, den Schauspielern David Bennent und André Wilms.

NZZ am Sonntag: Herr Goebbels, machen Sie Theater für ein elitäres Publikum?

Heiner Goebbels: Ich glaube, dass meine Stücke im Grunde voraussetzungslos funktionieren müssten. Ich möchte in meinen Arbeiten niemanden ausschliessen und erlebe zum Beispiel auch, dass ein jugendliches Publikum oder ein Publikum in Sydney oder Moskau, das meine bisherigen Arbeiten nicht kennt, damit ohne weiteres etwas anfangen kann. Erst so kann ich ermessen, ob ein Stück funktioniert. Elitär ist sicherlich das Privileg meiner Arbeitsmöglichkeiten, elitär sind manchmal auch, darauf habe ich leider keinen Einfluss, die Preise, allerdings nur bei bestimmten Festivals wie in Salzburg oder Luzern. Ein Ticket für "Max Black" beim Zürcher Theaterspektakel ist erschwinglich.

Achten Sie denn auf so etwas?

Nicht in allen Fällen. Wenn Simon Rattle eine Komposition von mir in der New Yorker Carnegie Hall aufführen will und die Karte 200 Dollar kostet, werde ich den Deubel tun, das zu verhindern. Aber ich kümmere mich tatsächlich auch um technische, logistische und ökonomische Details, oft zum Leidwesen der Produzenten.

Worin liegt die voraussetzungslose Zugänglichkeit Ihrer Werke?

Ein Stück, das klug gemacht ist, muss nicht damit hausieren gehen, sondern darauf angelegt sein, zugänglich zu bleiben, selbst wenn die Vorbereitungen sehr gründlich sind. Mein Hauptmotiv, das Geheimnis der Leichtigkeit, und damit die Antwort auf Ihre Frage ist vielleicht die Tatsache, dass ich einem rein semantischen, intellektuellen Zugang misstraue. Was eine sinnvolle Erfahrung sein soll, muss auch durch den Körper gehen. Das schliesst Komplexität nicht aus. Weil meine Stücke immer mehrere Zugänge erlauben, erlauben sie auch, dass man zum Beispiel in "Max Black" einer philosophischen Passage von Paul Valéry gerade nicht folgen kann. Ich kann es selber nicht. Stattdessen verfolgt man das Schattenspiel der Gestik auf der Rückwand der Bühne, das auch etwas erzählt, oder den Rauch über der Szene ...

Weshalb aber eine Passage in ein Stück einbauen, der man nicht folgen kann?

Die Leute haben erst immer den Eindruck, sie müssten alles verstehen. Das heisst, ich muss ihnen gleich zu Beginn eines Stückes klar machen, dass es auch Bilder, dass es Klänge gibt, ich muss das Publikum dazu überreden, das als Freiheit zu erleben.
Im Programmheft des Lucerne Festival wurden Sie als "Anti-Komponist" bezeichnet. Was denken Sie darüber?
Nicht zu leugnen ist, dass ich mich in vielen Kriterien von dem, was man gemeinhin unter einem Komponisten versteht, unterscheide. Aber ich opponiere nicht gegen etwas, sondern argumentiere mit einem weiteren Begriff von Komposition. Ich arbeite nicht nur als Komponist, sondern auch als Theatermacher; in "Eraritjaritjaka" kommt so gut wie keine Musik von mir vor. Aber auch als Komponist arbeite ich nach Methoden, mit denen ich mir nach herrschenden Kriterien die Hände schmutzig mache: Ich habe viel funktionale Musik geschrieben, für Ballett, für Film, für Theater. Ich arbeite auch kreativ zusammen mit andern Musikern, Afrikanern, Griechen, Japanern, und überlasse ihnen grosse Spielräume. Für mich muss nicht jeder Ton mein eigener sein.

Wollen Sie damit herrschende musikalische Kriterien und Hierarchien unterwandern?

Ich glaube gar nicht, dass man Musik nur für sich betrachten kann. Selbst ein Konzert ist immer auch ein performativer, ein theatralischer und visueller Akt. Es ist die Frage, ob ein Konzert in hundert Jahren noch so aussehen wird wie heute. Obwohl die Zeichen für eine Änderung schlecht stehen, weil die Konzertsäle heute immer noch ausschliesslich für die Konzertmusik des 19. Jahrhunderts gebaut werden wie zum Beispiel in Luzern. Ich habe letztes Jahr zwischen zwei Proben in der Berliner Philharmonie etwas Wunderbares erlebt. Zuerst wurde ein Stück von mir geprobt, anschliessend das dritte Klavierkonzert von Beethoven mit Alfred Brendel. Es wurde umgebaut, das übliche Rein und Raus. Die Orchesterwarte bauten die Schlagzeuge ab und so weiter. Da entstand, ungewollt und wohl von niemandem ausser mir bemerkt, eine Performance: Brendel hat am Flügel schon ein bisschen Beethoven geprobt, parallel dazu hat Simon Stockhausen, der in meinem Stück den Sampler gespielt hat, noch einige Samples bearbeitet, sehr rhythmische, geräuschhaft mechanische - und davon unbeeindruckt hat ein Bühnenmeister die Hubpodien neu eingestellt; der rief zwischendurch immer: "Fünfzig! Plus zehn! Stopp!" Dieses Nebeneinander von wunderbar melancholisch gespieltem Beethoven, den Geräuschen des Samplers und den Kommandos des Bühnenmeisters bleibt mir unvergesslich. Vielleicht müssten die Konzerte in Zukunft ja so aussehen.

Sie selbst arbeiten viel mit dem Neben- und Miteinander von musikalischen und aussermusikalischen Elementen.

Es gibt jedenfalls immer auch aussermusikalische Bezüge, die meine kompositori-schen Arbeiten definieren - literarische Anregungen oder Anregungen aus der bil-denden Kunst, die ich in musikalische Fragestellungen übersetze. Aber mich interessiert der Klang der gesprochenen Sprache, ihre Musikalität, und ich halte das für ein Thema, dessen sich die Komponisten noch nicht ausreichend angenommen haben.

In "Eraritjaritjaka" sind mir besonders auch die Grenzgänge aufgefallen, wie sich hier die Orte ineinander verschieben: Alles erweist sich als ambivalent auf der Bühne.

Indem wir zu ambivalenten Orten eine Haltung einnehmen, können wir uns als Zuschauer definieren. Es sind immer ambivalente Orte. Nehmen Sie das Schlussbild in "Landschaft mit entfernten Verwandten", wo 35 weiss gekleidete Darsteller in Kapuzen auf Knien japanische Klangschalen streichen. Ich habe die verschiedensten Interpretationen gehört. Die einen meinten, das solle bestimmt ein tibetisches Kloster darstellen, die andern, es erinnere an Guantánamo, die Dritten dachten an ein Biowaffen-Labor. Ich hatte viel Zeit verwendet, um ein Bild zu finden, das genau diese Fragen aufwirft und offen hält. Denn ich glaube, dass Theater den Blick nicht verengen darf, sondern öffnen muss.

Sie bezeichnen "Eraritjaritjaka" im Untertitel als "Museum der Sätze". Ist so ein Museum nicht auch ein Ort, der weit weg ist vom Leben und vom Kampf?

Für meinen Geschmack habe ich eher zu viel kämpferische Musik gemacht, wenn ich an Teile von "Surrogate Cities" denke oder an die Arbeit mit der Gruppe Cassiber in den achtziger Jahren. Was Sie mit kämpferisch meinen, ist immer auch eine Art von totalitärem Angang ans Publikum. Dem misstraue ich tatsächlich mehr und mehr. Das Publikum braucht seinen eigenen Raum, es braucht - um mit dem Bild meiner Komposition "Eislermaterial" zu sprechen - eine leere Bühne, auf der es selber Lust hat, Platz zu nehmen.

Sind die Ausstellungsstücke im Museum nicht immer auch im Doppelsinn aufgehoben?

Ich weiss nicht, wo Sie den Ort der Kunst vermuten. Ich glaube, dass die Museen in einer Wirklichkeit, die sehr wenig ästhetische Luft zum Atmen lässt, zunehmend eine utopische Rolle spielen. Es sind Schutzräume, in denen Konzentration möglich ist - nach einer Erfahrung im öffentlichen Raum, die dekonzentrierend und desensibilisierend wirkt. Vielleicht kann "Eraritjaritjaka" ja als Metapher für eine solche Konzentration dienen. Wir sind auf solche Konzentration angewiesen, wenn wir uns selber definieren wollen. Das geht nicht, wenn man unter Dauerbeschuss steht. Darum braucht es gegenüber dem totalitären Angang, den uns das Fernsehen oder die Musicals liefern, eine Alternative.

Und das ist der Ort der Kunst?

Das könnte er sein.

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)