Autumn 2007, Ulrike Krickau, Frankfurter Rundschau
Interview (de)

Stifters Dinge

Interview with Ulrike Krickau

Ihre Arbeiten sind sehr komplex, nicht wahr? Diese Art von Komplexität ist nichts, was den Betrachter abschrecken muß. Sie ermöglicht einfach auch Zugänge von vielen Seiten: von der Musik, der Literatur, dem Theater, der bildenden Kunst aus. Die Komplexität entsteht durch die Kollaboration mit einem starken künstlerischen Team und durch das Zusammenspiel vieler Möglichkeiten, die Theater bietet. Finden Sie Ihren persönlichen Zugang stärker über den Musik oder den Text? Seltener über die Musik. Die Inspiration kommt oft aus den anderen Künsten, bei „Stifters Dinge“ aus dem Raum, aus den Bildern, aus dem Text. Diesmal stand die Idee am Anfang, eine Aufführung ohne Darsteller zu entwickeln, eine Arbeit mit der Abwesenheit. Stifter kam erst später dazu, ich trage seine Texte aber schon seit zwanzig Jahren mit mir herum. Was hat Sie im Laufe des Arbeitsprozesses auf Stifter kommen lassen? Es gibt bei Stifter einen großen Respekt vor dem Fremden. Und „Dinge“ nennt er alles, was ihn durch die Materialität anspricht, sich ihm aber auch nicht vollständig erschließen kann. „Dinge“ können bei ihm Gegenstände sein, aber auch Naturkatastrophen, wie ein starkes Gewitter, oder auch fremde, „seltsame“ Menschen, die ihm über den Weg laufen. Daß er dafür dem Leser eine große Aufmerksamkeit abtrotzt, wenn er zur Beschreibung dieser „Dinge“ sehr viel Zeit beansprucht, das hat mich fasziniert und hat viel mit diesem Projekt zu tun. Für mich ist Stifter immer eine ganz dichte Übersetzung von sinnlicher Wahrnehmung in Sprache. Sie haben recht, es ist auch eine Ästhetisierung. Es ist nicht so, dass er glaubt, man könne die Natur in den Text holen, man muss sie natürlich in eine Ästhetik des Schreibens übersetzen. Dafür braucht sie ihre Zeit und ihren Raum. Das gilt auch für „Stifters Dinge“. Wir verlangsamen das Szenische und das Publikum schaut z.B. dabei auch sehr langsamen Prozessen zu: Wasser, Nebel, Regen, Eis... Wie es funktioniert, daß sie das nicht als langweilig, sondern im Gegenteil als hoechst aufregend erleben, das habe ich so ganz auch noch nicht verstanden... Sie öffnen den Blickwinkel? Ja. Vor allem dadurch, dass es keinen Protagonisten gibt, kein Zentrum. Dadurch schweift der Blick, kann selbst etwas entdecken und jeder kann seine eigene Aufmerksamkeit entwickeln. Der ästhetische Wert ist dabei augenfällig, aber können Sie die auch die Verbindung zur Gesellschaft definieren? Respekt und Anerkennung des Fremden ist vor allem dann gefordert, wenn es fremd bleibt. Nicht erst, wenn wir merken, der Andere ist ja genau so wie wir. Und im Theater spiegeln wir uns normalerweise nur, identifizieren uns mit den Schauspielern. Vielleicht ist auch deshalb die Auseinandersetzung mit fremden Sprachen, fremden Stimmen und anderen, nicht einmal personifizierbaren Kräften in diesem Stück eine im weitesten Sinne auch gesellschaftliche Frage. Zur Person: Heiner Goebbels wurde am 17. August 1952 in Neustadt an der Weinstraße geboren. Er studierte Soziologie und Musik, spielte u.a. im „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“, entwickelte Hörstücke, schrieb Kompositionen für Ensembles und große Orchester. Weltweit Anerkennung bekam er für seine experimentellen Musiktheaterproduktionen „Schwarz auf Weiß“, „Max Black“ „Hashirigaki“ und „Eraritjaritjaka“. 2002 wurde er mit der Goetheplakette der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Seit 1999 ist Heiner Goebbels Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, seit 2006 auch Präsident der Hessischen Theaterakademie. Zur Zeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Seine neueste Produktion „Stifters Dinge“ ist erneut eine Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner und Lichtdesigner Klaus Grünberg. „Stifters Dinge“ wurde am 13. September in Lausanne uraufgeführt, es ist eine performative Installation ohne Schauspieler und Musiker.

on: Stifters Dinge (Music Theatre)