1 January 2000
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Die Befreiung des Prometheus ist ein Prosatext, den Heiner Müller wie einen erratischen Block in das Theaterstück Zement gesetzt hat und woran sich das Theater die Zähne ausbeißt, weil es mit seinen eigenen Mitteln ihm nicht gerecht werden kann. Ob ich es schaffe, weiß ich nicht; ich versuche aber mit selbständigen musikalischen Mitteln, die in der Ausdruckshierarchie nicht unter, sondern neben dem Text rangieren (mit Songformen, Collagen, der Filmtechnik nahestehenden Schnitten und Rückblenden), mindestens zweierlei hörbar zu machen: - die große Faszination, die die unvorstellbaren Dimensionen von Arbeit und Zeit, Kot und Gestank in dem Text auf mich ausüben, - und die - nach André Gide und Kafka - neuen politischen Perspektiven der Arbeit am Mythos, mit denen Müller den Doppelcharakter des Prometheus humorvoll und scharf ausstattet: als Feuerräuber für die Menschen und als privilegierter Gast am Tisch der Götter. Das macht es mir möglich, dazu weitere Texte von Heiner Müller (zum Beispiel aus dem Stück Der Auftrag) analog zu assoziieren und Prometheus 10000 Jahre runter- (bzw. rauf-)fallen zu lassen, als ein mittlerer Angestellter im Fahrstuhl auf dem Weg zum Chef. Arrangement mit der Unterdrückung, Heimweh nach dem Fahrstuhl, die Sehnsucht nach dem geliebten Adler im Felsenbett, sind stärker als das Abenteuer unter veränderten Lebensbedingungen. (Heiner Goebbels) Die Befreiung des Prometheus Prometheus, der den Menschen den Blitz ausgeliefert,aber sie nicht gelehrt hatte, ihn gegen die Götter zu gebrauchen, weil er an den Mahlzeiten der Götter teilnahm, die mit den Menschen geteilt weniger reichlich ausgefallen wären, wurde wegen seiner Tat beziehungsweise wegen seiner Unterlassung im Auftrag der Götter von Hephaistos dem Schmied an den Kaukasus befestigt, wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden Leber aß. Der Adler, der ihn für eine teilweise eßbare, zu kleineren Bewegungen und, besonders wenn man von ihr aß, mißtönendem Gesang befähigte Gesteinspartie hielt, entleerte sich auch über ihn. Der Kot war seine Nahrung. Er gab ihn, verwandelt in eigenen Kot, an den Stein unter sich weiter, so daß, als nach dreitausend Jahren Herakles sein Befreier das menschenleere Gebirge erstieg, er den Gefesselten zwar schon aus großer Entfernung ausmachen konnte, weißschimmernd von Vogelkot, aber, zurückgeworfen immer wieder von der Mauer aus Gestank, weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste, während der Hundsköpfige weiter die Leber des Gefesselten aß und ihn mit seinem Kot ernährte, so daß der Gestank zunahm in dem gleichen Maß wie der Befreier sich an ihn gewöhnte. Endlich, von einem Regen begünstigt, der fünfhundert Jahre anhielt, konnte Herakles sich auf Schußweite nähern. Dabei hielt er mit einer Hand die Nase zu. Dreimal verfehlte er den Adler, weil er, von der Welle des Gestanks betäubt, die auf ihn einschlug, als er die Hand von der Nase nahm, um den Bogen zu spannen, unwillkürlich die Augen geschlossen hatte. Der dritte Pfeil verletzte den Gefesselten leicht am linken fuß, der vierte tötete den Adler. Prometheus, wird erzählt, weinte laut um den Vogel, seinen einzigen Gefährten in dreitausend Jahren und Ernährer in zweimal dreitausend. Soll ich deine Pfeile essen,schrie er und,vergessend,daß er andere Nahrung gekannt hatte. Kannst du fliegen, Bauer, mit deinen Füßen aus Mist. Und erbrach sich vor dem Stallgeruch, der dem Herakles anhing, seit er die Ställe des Augias gesäubert hatte, weil der Mist zum Himmel stank. Iß den Adler, sagte Herakles. Aber Prometheus konnte den Sinn seiner Worte nicht begreifen. Auch wußte er wohl, daß der Adler seine letzte Verbindung zu den Göttern gewesen war, seine täglichen Schnabelhiebe ihr Gedächtnis an ihn. Beweglicher als je in seinen Ketten beschimpfte er seinen Befreier als Mörder und versuchte ihm ins Gesicht zu spein. Herakles, der sich vor Ekel krümmte, suchte währenddem die Fesseln, mit denen der Tobende an seinem Gefängnis befestigt war. Zeit, Wetter und Kot hatten Fleisch und Metall voneinander ununterscheidbar gemacht, beides vom Stein. Gelockert durch die heftigeren Bewegungen des Gefesselten wurden sie kenntlich. Es stellte sich heraus, daß sie von Rost zerfressen waren. Nur am Geschlecht war die Kette mit dem Fleisch verwachsen, weil Prometheus, wenigstens in seinen ersten zweitausend Jahren am Stein, gelegentlich masturbiert hatte. Später hatte er dann wohl auch sein Geschlecht vergessen. Von der Befreiung blieb eine Narbe. Leicht hätte sich Prometheus selbst befreien können, wenn er den Adler nicht gefürchtet hätte, waffenlos und erschöpft von den Jahrtausenden wie er war. Daß er die Freiheit mehr gefürchtet hat als den Vogel,zeigt sein Verhalten bei der Befreiung. Brüllend und geifernd, mit Zähnen und Klauen, verteidigte er seine Ketten gegen den Zugriff des Befreiers. Befreit, auf Händen und Knien,heulend in der Qual der Fortbewegung mit den tauben Gliedmaßen, schrie er nach seinem ruhigen Platz am Stein, unter den Fittichen des Adlers, mit keinem andern Ortswechsel als dem von den Göttern durch gelegentliche Erdbeben verfügten. Noch als er schon wieder aufrecht gehen konnte, sperrte er sich gegen den Abstieg wie ein Schauspieler, der seine Bühne nicht verlassen will. Herakles mußte ihn auf den Schultern vom Gebirge schleppen. Weitere dreitausend Jahre dauerte der Abstieg zu den Menschen. Während die Götter das Gebirge aus dem Grund rissen, so daß der Abstieg durch den Wirbel der Gesteinsbrocken eher einem Absturz glich, trug Herakles seine kostbare Beute, damit sie nicht zu Schaden kam, wie ein Kind an seine Brust gebettet. An den Hals des Befreiers geklammert, gab Prometheus ihm mit leiser Stimme die Richtung der Geschosse an, so daß sie den meisten ausweichen konnten. Dazwischen beteuerte er, laut gegen den Himmel schreiend, der vom Wirbel der Steine verdunkelt war, seine Unschuld an der Befreiung. Es folgte der Selbstmord der Götter. Einer nach dem andern warfen sie sich aus ihrem Himmel auf den Rücken des Herakles und zerschellten im Geröll. Prometheus arbeitete sich an den Platz auf der Schulter seines Befreiers zurück und nahm die Haltung des Siegers ein, der auf schweißnassem Gaul dem Jubel der Bevölkerung entgegenreitet. (Heiner Müller: Zement. © Henschel Verlag Schauspiel, Berlin, vertreten durch den Verlag der Autoren, Frankturt/Main)

on: Die Befreiung des Prometheus (Music Theatre)