1 January 2000
Material (de)

Libretto (deutsch)

Heiner Goebbels Eraritjaritjaka musée des phrases nach Texten von Elias Canetti Textbuch deutsch I Ich habe keine Töne, die mir zur Beruhigung dienen, keine Gambe wie sie, keine Klage, die niemand als Klage erkennt, weil sie verhalten klingt, in einer unsäglich zarten Sprache. Ich habe nur diese Striche auf dem gelblichen Papier und Worte, die niemals neu sind, denn sie sagen ein ganzes Leben dasselbe. g * Am ehesten gleichen wir Kegeln. In Familien stellt man uns auf, es sind ungefähr neun. Kurz und hölzern stehen wir da, mit den Mitkegeln wissen wir nichts anzufangen. Der Schlag, der uns niederwerfen soll, ist lange vorgebahnt; blöde warten wir ab; im Fallen reißen wir so viele Mitkegel um, als wir nur können, es ist der Schlag, den wir ihnen weitergeben, die einzige Berührung, die wir ihnen in einem raschen Dasein gönnen. Es heißt, daß man uns wieder aufstellt. Doch wenn dem so ist, so sind wir im neuen Leben genau dasselbe, nur unter den Neun, in der Familie, haben wir Platz gewechselt, selbst das nicht immer, und hölzern und blöde warten wir wieder auf den alten Schlag. p * Eine neue Musik erfinden, in der die Töne in schärfstem Gegensatz zu den Worten stehen und die Worte auf diese Weise verändern, verjüngen, mit neuem Inhalt erfüllen. Worten ihre Gefährlichkeit nehmen, durch Musik. Worte mit neuen Gefahren laden, durch Musik. Worte verhaßt, Worte beliebt machen, durch Musik. Worte zersprengen, Worte vereinigen, durch Musik. p In der Musik schwimmen die Worte, die sonst gehen. Ich liebe den Gang der Worte, ihre Wege, ihre Haltepunkte, ihre Stationen, ich mißtraue dem Fließen. g Sätze, die sich voreinander drücken. Pausen und Pausen, dazwischen quadratische Worte wie Festungen. h Ein Satz allein ist sauber. Schon der nächste nimmt ihm etwas weg. Er mag Sätze einzeln, Sätze für sich, man kann sie in der Hand herumdrehen, man kann sie beuteln, man kann sie würgen. Nicht mehr sprechen, die Worte stumm nebeneinanderlegen und ihnen zusehen. p Nebeneinanderlegen darfst du die Sätze schon, sie mögen einander sehen, und wenn es sie reizt, dürfen sie einander berühren. Mehr nicht. f * Es wäre hübsch, von einem gewissen Alter ab, Jahr um Jahr wieder kleiner zu werden und dieselben Stufen, die man einst mit Stolz erklomm, rückwärts zu durchlaufen. Die Würden und Ehren des Alters müßten trotzdem dieselben bleiben, die sie heute sind; sodaß ganz kleine Leute, sechs- oder achtjährigen Knaben gleich, als die weisesten und erfahrensten gelten würden. Die ältesten Könige wären die kleinsten; es gäbe überhaupt nur ganz kleine Päpste; die Bischöfe würden auf Kardinäle, und die Kardinäle auf den Papst herabsehen. Kein Kind mehr könnte sich wünschen, etwas Großes zu werden. Die Geschichte würde an Bedeutung durch ihr Alter verlieren; man hätte das Gefühl, daß Ereignisse vor dreihundert Jahren sich unter insektenähnlichen Geschöpfen abgespielt hätten, und die Vergangenheit hätte das Glück, endlich übersehen zu werden. p * Immer wenn man ein Tier genau betrachtet, hat man das Gefühl, ein Mensch, der drin sitzt, macht sich über einen lustig. Aufatmen unter Tieren: sie wissen nicht, was ihnen bevorsteht. In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede. Es ist nicht auszudenken, wie gefährlich die Welt ohne Tiere sein wird. Man möchte jeden Menschen in seine Tiere auseinandernehmen und sich mit diesen dann gründlich und begütigend ins Einvernehmen setzen. Die fehlenden Tiere: die Arten, die der Aufstieg des Menschen an der Entstehung verhindert hat. Welche erstaunliche Hierarchie unter den Tieren! Der Mensch sieht sie so, wie er sich ihre Eigenschaften gestohlen hat. p Beim Nachtmahl fragte ich sie, ob sie gerne die Sprache der Tiere verstehen möchte. Nein, das möchte sie nicht. Auf meine Frage: Warum nicht? Zögerte sie ein wenig und sagte dann: Damit sie sich nicht fürchten. g Haben Tiere weniger Angst, weil sie ohne Worte leben? p * Das Geheimnis ist im innersten Kern der Macht. Der Akt des Belauerns ist seiner Natur nach geheim. Man verbirgt sich oder gleicht sich der Umgebung an und gibt sich durch keine Regung zu erkennen. Das ganze lauernde Geschöpf verschwindet, es hüllt sich ins Geheimnis wie in eine andere Haut und verharrt auf lange in ihrem Schutze. Eine eigentümliche Verquickung von Ungeduld und Geduld kennzeichnet das Geschöpf in dieser Verfassung. Je länger es in ihr verbleibt, um so heftiger wird die Hoffnung auf das plötzliche Gelingen. Aber damit zum Schlusse etwas gelingt, muß seine Geduld ins Endlose wachsen. Geht sie ihm um einen Augenblick zu früh aus, so war alles umsonst, und er muß, mit der Enttäuschung belastet, von vorne beginnen. Das Geheimnis hat hier einmal seinen aktiven Bereich. Der Machthaber, der sich seiner bedient, kennt es genau und versteht sehr wohl, es nach seiner jeweiligen Bedeutung abzuschätzen. Er weiß, worauf er lauert, wenn er etwas erlangen will, und er weiß, wen er unter seinen Helfern zum Lauern verwendet. Er hat viele Geheimnisse, da er vieles will, und bringt sie in ein System, in dem sie sich untereinander verwahren. Er vertraut dem einen dieses, dem anderen jenes an und sorgt dafür, daß sie sich nie verbinden können. Jeder, der etwas weiß, wird von einem anderen bewacht, der aber nie erfährt, was es eigentlich ist, das er im anderen bewacht. Er hat jedes Wort und jede Bewegung des ihm Zugewiesenen zu verzeichnen; indem er des öfteren über sie berichtet, vermittelt er dem Herrscher ein Bild von der Gesinnung des Überwachten. Doch der Wächter selbst wird auch überwacht, und der Bericht eines anderen korrigiert den seinen. So ist der Machthaber über die Verläßlichkeit der Gefäße, denen er seine Geheimnisse anvertraut, über ihre Sicherheit immer auf dem laufenden und vermag abzuschätzen, welches dieser Gefäße so voll geworden ist, daß es überfließen könnte. Zum kompletten Schachtelsystem der Geheimnisse hat er allein den Schlüssel. Er fühlt sich gefährdet, wenn er ihn einem anderen ganz anvertraut. Zur Macht gehört eine ungleiche Verteilung des Durchschauens. Der Mächtige durchschaut, aber er läßt sich nicht durchschauen. Am verschwiegensten muß er selber sein. Seine Gesinnung wie seine Absichten darf keiner kennen. m * II Die Namen der Musikinstrumente sind ein Zauber für sich. f Ich habe keine Töne, die mir zur Beruhigung dienen, keine Gambe wie sie, keine Klage, die niemand als Klage erkennt, weil sie verhalten klingt, in einer unsäglich zarten Sprache. Ich habe nur diese Striche auf dem gelblichen Papier und Worte, die niemals neu sind, denn sie sagen ein ganzes Leben dasselbe. g * Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten. Der Dirigent hält sich für den ersten Diener an der Musik. Der Dirigent steht. Die Aufrichtung des Menschen als alte Erinnerung ist in vielen Darstellungen der Macht noch von Bedeutung. Der Dirigent steht allein. Um ihn herum sitzt sein Orchester, hinter ihm sitzen die Zuhörer, es ist auffallend, daß er allein steht. Er steht erhöht und ist von vorn und im Rücken sichtbar. Vorne wirken seine Bewegungen aufs Orchester, nach rückwärts auf die Zuhörer. Die eigentlichen Anordnungen gibt er mit der Hand allein oder mit Hand und Stab. Diese oder jene Stimme weckt er plötzlich züm Leben durch eine ganz kleine Bewegung, und was immer er will, verstummt. So hat er Macht über Leben und Tod der Stimmen. Eine Stimme, die lange tot ist, kann auf seinen Befehl wiederauferstehen. Die Verschiedenheit der Instrumente steht für die Verschiedenheit der Menschen. Das Orchester ist wie eine Versammlung all ihrer wichtigsten Typen. Ihre Bereitschaft zu gehorchen ermöglicht es dem Dirigenten, sie in eine Einheit zu verwandeln, die er dann allgemein sichtbar für sie vorstellt. Das Werk, das er ausführt, auf alle Fälle komplexer Natur, erfordert von ihm, daß er scharf aufpaßt. Geistesgegenwart und Raschheit gehören zu seinen kardinalen Eigenschaften. Über Gesetzesbrecher muß er mit Blitzeseile herfallen. Die Gesetze werden ihm an die Hand gegeben als Partitur. Andere haben sie auch und können seine Durchführung kontrollieren, aber er ganz allein bestimmt, und er allein richtet auf der Stelle über Fehler. Daß dies öffentlich geschieht, in jeder Einzelheit allgemein sichtbar, gibt dem Dirigenten ein Selbstgefühl eigener Art. Er gewöhnt sich daran, immer gesehen zu werden, und kann es immer schwerer entbehren. Das Stillsitzen der Zuhörer gehört so sehr zur Absicht des Dirigenten wie die Folgsamkeit des Orchesters. Es wird ein Zwang auf die Zuhörer ausgeübt, sich unbeweglich zu verhalten. Bevor er da ist, vor dem Konzert, sprechen und bewegen sie sich durcheinander. Die Anwesenheit der Musiker stört niemand, man beachtet sie kaum. Da erscheint der Dirigent. Es wird still. Er stellt sich auf; er räuspert sich; er hebt den Stab: alle verstummen und erstarren. Solange er dirigiert, dürfen sie sich nicht bewegen. Sobald er zu Ende ist, sollen sie klatschen. Alle ihre Bewegungslust, die durch die Musik geweckt und gesteigert wird, soll sich bis zum Ende stauen, dann aber losbrechen. Für die klatschenden Hände verneigt er sich. Für sie kehrt er immer wieder zurück, sooft die Hände es wollen. Ihnen, aber ihnen allein, ist er ausgeliefert, für sie lebt er wirklich. Es ist die Akklamation des Siegers, die ihm so zuteil wird. Die Größe des Sieges drückt sich im Maße des Beifalls aus. Während des Spiels ist der Dirigent für die Menge im Saal ein Führer. Er steht an ihrer Spitze und hat ihnen den Rücken zugekehrt. Er ist es, dem man folgt, denn er tut den ersten Schritt. Aber statt mit dem Fuße holt er mit der Hand aus. Der Ablauf innerhalb der Musik, den die Hand bewirkt, steht für den Weg, den er mit den Beinen voranschreiten würde. Der Haufen im Saal wird durch ihn entführt. Sein Blick, so intensiv wie möglich, erfaßt das ganze Orchester. Jedes Mitglied fühlt sich von ihm gesehen, aber noch mehr von ihm gehört. Die Stimmen der Instrumente sind die Meinungen und Überzeugungen, auf die er schärfstens achtet. Er ist allwissend, denn während die Musiker nur ihre Stimmen vor sich liegen haben, hat er die vollständige Partitur im Kopf oder auf dem Pult. Es ist ihm genau bekannt, was jedem in jedem Augenblick erlaubt ist. Daß er auf alle zusammen achtet, gibt ihm das Ansehen der Allgegenwärtigkeit. Er ist sozusagen in jedermanns Kopf. Er weiß, was jeder machen soll, und er weiß auch, was jeder macht. Er, die lebende Sammlung der Gesetze, schaltet über beide Seiten der moralischen Welt. Er gibt an, was geschieht, durch das Gebot seiner Hand, und verhindert, was nicht geschehen soll. Sein Ohr sucht die Luft nach Verbotenem ab. Für das Orchester stellt der Dirigent so tatsächlich das ganze Werk vor, in seiner Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge, und da während der Aufführung die Welt aus nichts anderem bestehen soll als aus dem Werk, ist er genau so lange der Herrscher der Welt. m * III Ein Land, wo einer, der „ich“ sagt, schleunig in die Erde versinkt. g Eine Gesellschaft, in der alle Menschen stehend schlafen, mitten auf der Straße und ohne daß irgend etwas sie stört. Eine Gesellschaft, in der die Menschen nach Belieben alt oder jung sein können und immer damit abwechseln. Eine Gesellschaft, in der es ein einziges Auge gibt, es macht unaufhörlich die Runde. Alle wollen dasselbe sehen, sie sehen es. Eine Gesellschaft, in der die Menschen ein einziges Mal im Leben weinen. Sie sparen sehr damit, und wenn es vorbei ist, freuen sie sich auf nichts und sind matt und alt geworden. Eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gemalt wird und zu seinem Bilde betet. Eine Gesellschaft, in der die Menschen plötzlich verschwinden, aber man weiß nicht, daß sie tot sind, es gibt keinen Tod, es gibt kein Wort dafür, sie sind es zufrieden. Eine Gesellschaft, in der Menschen lachen, statt zu essen. Eine Gesellschaft, in der nie mehr als zwei Menschen beieinanderstehen, alles andere ist undenkbar und unerträglich. Wenn ein Dritter sich nähert, fahren die Zwei, von Ekel geschüttelt, auseinander. Eine Gesellschaft, in der jeder ein Tier zum Sprechen abrichtet, das dann für ihn spricht, aber er verstummt. Eine Gesellschaft, die nur aus Alten besteht, die in Blindheit immer Ältere zeugen. Eine Gesellschaft, in der es keinen Kot gibt, alles löst sich im Leibe auf. Es sind Leute ohne Schuldgefühle, lächelnd und fressend. Eine Gesellschaft, in der die Guten stinken und jeder ihnen ausweicht. Doch aus der Ferne werden sie bewundert. Eine Gesellschaft, in der niemand allein stirbt. Tausend tun sich zusammen, von selber, und werden öffentlich hingerichtet, ihr Fest. Eine Gesellschaft in der jeder offen nur zum andern Geschlecht spricht, Männer zu Frauen, Frauen zu Männern; aber ein Mann nicht zu einem Mann, eine Frau nicht zu einer Frau, oder nur ganz verstohlen. Eine Gesellschaft, in der Kinder als Henker dienen, damit kein Großer seine Hand mit Blut besudelt. Eine Gesellschaft, in der man nur einmal im Jahr atmet. p * IV Ein Mensch, der nie einen Brief bekommen hat. Die alten Kleider ablegen. Erinnern, ja. Aber nicht in den alten Kleidern. In der Liebe sind Versicherungen wie eine Ankündigung ihres Gegenteils. Man kann einem Menschen nichts Böseres tun, als sich ausschließlich mit ihm beschäftigen. p Einzeln sein, aber nicht für sich. g Zuhause fühle ich mich, wenn ich mit dem Bleistift in der Hand deutsche Wörter niederschreibe und alles um mich herum spricht Englisch. p Das einzige, was sich nicht an ihm rächt, sind Aufzeichnungen. g Der Bleistift: seine Krücke. a Ohne Zähne schreiben. Versuch’s! p Es ist mißlich, Aufzeichnungen zu erklären, es ist, als nähme man sie zurück. g Erkläre nichts. Stell es hin. Sag’s. Verschwinde. g Nun weiß er, daß er in einer Schublade weiterexistieren wird. a Kann man durch Genauigkeit ruhig werden? Ist nicht eben Genauigkeit die höchste Unruhe? p Das Lächerliche an der Ordnung ist, daß sie von so wenig abhängt. Ein Haar, buchstäblich ein Haar, das liegt, wo es nicht liegen sollte, kann Ordnung von Unordnung trennen. Alles, was da nicht hingehört, wo es ist, ist feindlich. Selbst das Winzigste ist störend: der Mann vollkommener Ordnung müßte seinen Bereich mit einem Mikroskop absuchen, und selbst dann bliebe noch ein Rest von Bereitschaft zur Unruhe in ihm zurück. Frauen müßten in dieser Hinsicht am glücklichsten sein, weil sie am meisten Ordnung machen, immer am selben Ort. Es ist etwas Mörderisches in der Ordnung: nichts soll da leben, wo man es nicht erlaubt hat. Man wird keine unbekannten Gegenstände mehr finden. Man wird sie machen müssen, wie trostlos! So sprechen, als wäre es der letzte Satz, der einem erlaubt wäre. p * Einen Menschen suchen, der einen langsam macht. h Zu den lästigen Beschwichtigungsworten des englischen Lebens gehört „Relax!“ Ich stelle mir dabei jemand vor, der zu Shakespeare „Relax!“ sagt. p Franzosen: sie setzen sich zum Essen nieder wie zum ewigen Leben. h Jeder müßte sich selbst beim Essen zusehen. p Erfolg ist der Raum, den man in der Zeitung einnimmt. g In der Zeitung steht alles. Man muß sie nur mit genug Haß lesen. p Er sucht sich glückliche Adjektive, leckt sie ab und klebt sie zusammen. f Aus Mißtrauen vor Adjektiven ist er verstummt. p * »Was tust du hier, mein Junge?« »Nichts.« »Warum stehst du dann da?« »So.« »Kannst du schon lesen?« »0 ja. « »Wie alt bist du?« »Neun vorüber.« »Was hast du lieber: eine Schokolade oder ein Buch?« »Ein Buch.« »Wirklich? Das ist schön von dir. Deshalb stehst du also da.« »Ja.« »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« »Der Vater schimpft.« »So. Wie heißt dein Vater?« »Franz Metzger.« »Möchtest du in ein fremdes Land fahren?« »Ja. Nach Indien. Da gibt es Tiger.« »Wohin noch?« »Nach China. Da ist eine riesige Mauer.« »Du möchtest wohl gern hinüberklettern?« »Die ist viel zu dick und zu groß. Da kann keiner hinüber. Drum hat man sie gebaut.« »Was du alles weißt! Du hast schon viel gelesen.« »Ja, ich lese immer. Der Vater nimmt mir die Bücher weg. Ich möchte in eine chinesische Schule. Da lernt man vierzigtausend Buchstaben. Die gehen gar nicht in ein Buch.« »Das stellst du dir nur so vor.« »Ich hab's ausgerechnet.« »Es stimmt aber doch nicht. In meiner Tasche hab' ich was Schönes. Wart', ich zeig's dir. Weißt du, was das für eine Schrift ist?« »Chinesisch! Chinesisch! »Du bist aber ein aufgeweckter Junge. Hast du schon früher ein chinesisches Buch gesehen?« »Nein, ich hab's erraten.« »Diese beiden Zeichen bedeuten Mong Tse, der Philosoph Mong. Das war ein großer Mann in China. Vor 2250 Jahren hat er gelebt, und man liest ihn noch immer. Wirst du dir das merken?« »Ja. Jetzt muß ich in die Schule.« »Aha, da siehst du dir auf dem Schulweg die Buchhandlungen an? Wie heißt du denn selbst?« »Franz Metzger. Wie mein Vater.« »Und wo wohnst du?« »Ehrlichstraße vierundzwanzig.« »Da wohn' ich ja auch. Ich kann mich gar nicht an dich erinnern.« »Sie sehn immer weg, wenn jemand über die Stiege geht. Ich kenne Sie schon lange. Sie sind der Herr Professor Kien, aber ohne Schule. Die Mutter sagt, Sie sind kein Professor. Ich glaube schon, weil Sie eine Bibliothek haben. So was kann man sich gar nicht vorstellen, sagt die Marie. Das ist unser Mädchen. Bis ich groß bin, will ich, eine Bibliothek. Da müssen alle Bücher drin sein, in allen Sprachen, so ein chinesisches auch. Jetzt muß ich laufen.« »Wer hat denn dieses Buch geschrieben? Weißt du das noch?« »Mong Tse, der Philosoph Mong. Vor genau 2250 Jahren.« »Schön. Du darfst einmal in meine Bibliothek kommen. Sag der Wirtschafterin, daß ich es erlaubt habe. Ich zeig' dir Bilder aus Indien und China.« »Fein! Ich komm'! Ich komm' bestimmt! Heut nachmittag?« »Nein, nein, mein Junge. Ich hab' zu arbeiten. Frühestens in einer Woche.« b * Mit Menschen kannst du nicht sein. Ohne Menschen kannst du nicht sein. Wie sollst du sein? a Um allein zu bleiben, stellt er sich zittrig. Im Alter werden die Sinne klebrig. g Sie heiratete ihn, um ihn immer bei sich zu haben. Er heiratete sie, um sie zu vergessen. p Er liebt sie, er kann mit niemand sonst so vorsichtig sein. h Du bist so schön, sagt er manchmal, und niemand ist da, dem er es sagt. Wird sie ins Zimmer treten? Wird sie sagen: Ich bin’s. Ich bin’s. Wo bist du gewesen? Ich weiß es nicht. Du bist wie damals. Ist es denn so lang her? Sehr lang und wie nichts, weil du da bist. Ich geh, damit es länger bleibt. Bleib! Bleib! Nie. Wo bist du? Fort. Zeig mir den Weg. Es gibt keinen. Die Tür! ist geschlossen. – Du siehst sie. Ich sehe nichts. Siehst du mich? Wer bist du? a’ Den Rest des Lebens nur an ganz neuen Orten verbringen. Die Bücher aufgeben. Alles Begonnene verbrennen. In Länder gehen, deren Sprache man nie erlernen kann. Sich vor jedem erklärten Worte hüten. Schweigen, schweigen und atmen, das Unbegriffene atmen. Es ist nicht das Erlernte, das ich hasse, was ich hasse ist, daß ich darin wohne. p * In jeder Familie, die nicht die eigene ist, erstickt man. In der eigenen erstickt man auch, aber man merkt’s nicht. p Wunderbar die Gespräche, die man nicht führt. h Man denkt, man denkt, bis sich alles von selber denkt, und dann hat es überhaupt nichts mehr zu bedeuten. p Ein anderer sein, ein anderer, ein anderer. Als anderer dürfte man auch sich wieder sehen. g * V Es quält ihn, daß nicht alles, was er je gewußt hat, zugleich aufleuchtet. Ein Gewitter, das eine volle Woche dauert. Finsternis überall. Lesen nur, wenn es blitzt. Das in Blitzen Gelesene erinnern und verbinden. p Wer zuviel Worte hat, kann nur noch allein sein. g Unverständlich werden, dir selber, stammeln. h Der letzte Bleistift ist aufgegessen. g * Da fahren sie in aller Welt herum, kommen zurück, fahren weg, und ich bin hier, immer derselbe, nichts ist geschehen, ich, immer mit denselben Gedanken und Menschen beschäftigt. Was ist es, das nicht stimmt, sind sie es, bin ich es, oder sind es diese selben Gedanken, die mich seit dreißig Jahren nicht loslassen? Werde ich an ihnen sterben, werde ich ihnen je entrinnen? p * VI Dort knüpft ein Satz an den andern an. Dazwischen sind hundert Jahre. Dort gehen die Leute nie allein, nur in Gruppen von vier bis acht, ihre Haare unentwirrbar ineinander verflochten. Dort leben die Toten in Wolken weiter und befruchten als Regen die Frauen. Dort bleiben die Götter klein, während die Menschen wachsen. Wenn sie so groß geworden sind, daß sie die Götter nicht mehr sehen, müssen sie einander erwürgen. Dort radebrechen sie auf dem Markt und erstarren zu Hause. Dort wird jeder von einem eingeborenen Wurm regiert und pflegt ihn und ist gehorsam. Dort handeln sie nur zu hundert, der Einzelne, der nie sich nennen gehört hat, weiß von sich nichts und versickert. Dort flüstern sie zueinander und bestrafen ein lautes Wort mit Exil. Dort fasten die Lebenden und füttern die Toten. p Dort sind die Leute am lebendigsten beim Sterben. Dort gehen die Leute in Reihen aus, es gilt als unverschämt, sich allein zu zeigen. Dort muß jeder, der stottert, auch hinken. g Dort lieben sich die Hunde anders, im Laufen. p Dort werden die Hausnummern täglich gewechselt, damit keiner nach Hause findet. Dort gilt es als unverfroren, dasselbe zu sagen. Dort hat man einen anderen für Schmerzen, eigene gelten nicht. g Dort lesen die Leute zweimal im Jahr die Zeitung, übergeben sich und gesunden. Dort haben Länder keine Hauptstadt. Die Leute siedeln sich alle an den Grenzen an. Das Land bleibt leer. Hauptstadt ist die ganze Grenze. Dort träumen die Toten und tönen als Echo. Dort begrüßen sich Menschen mit einem Schrei der Verzweiflung und verabschieden sich mit Jubel. Dort stehen die Häuser leer und werden stündlich gefegt: für künftige Generationen. Dort schließt ein Beleidigter für immer die Augen und öffnet sie heimlich, wenn er allein ist. Dort erkennt man Ahnen, für Zeitgenossen ist man blind. Dort sagt man »du bist« und meint »ich wäre«. Dort beißt man rasch und insgeheim zu und sagt: Ich nicht. f Texte von Elias Canetti, entnommen aus: p Die Provinz des Menschen, Aufzeichnungen 1942-1972, München 1973, Carl Hanser Verlag g Das Geheimherz der Uhr, Aufzeichnungen 1973-1985, München 1987, Carl Hanser Verlag f Die Fliegenpein, Aufzeichnungen, München 1992, Carl Hanser Verlag h Nachträge aus Hampstead, Aufzeichnungen, München 1994, Carl Hanser Verlag a Aufzeichnungen 1973 – 1984, München 1999, Carl Hanser Verlag a’ Aufzeichnungen 1992-1993, München 1996, Carl Hanser Verlag b Die Blendung, Roman, München 1963, Carl Hanser Verlag m Masse und Macht, Hamburg 1960, Claassen Verlag

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)