4 June 2020, Heinrich Brinkmöller-Becker, NRWjazz.net
Review (de)

The Mayfield mit Heiner Goebbels

Festivalhighlight mit imaginativen Klangräumen

The Mayfield mit Heiner Goebbels | Festivalhighlight mit imaginativen Klangräumen Text & Fotos: Heinrich Brinkmöller-Becker Moers, 04.06.2020 | Der Auftritt von Heiner Goebbels beim diesjährigen Moers Festival wurde mit Spannung erwartet, gilt er für viele doch als Highlight des diesjährigen Festivals. Der umtriebige Komponist, Musiker, Theatermacher und Hochschullehrer ist nach 31 Jahren endlich wieder in Moers – in der Formation The Mayfield mit jungen MusikerInnen. Zum Hintergrund des Projektes muss man etwas ausholen. Während seiner Intendanz der Ruhrtriennale inszenierte Heiner Goebbels im Jahre 2012 die John Cage-Opernserie Europeras 1&2. Requisiten und Bühnenbild von Klaus Grünberg setzte Goebbels wiederum während der Ruhrtriennale im letzten Jahr in seiner Produktion Everything That Happened And Would Happen ein. Diese 135-minütige Produktion bestand aus mehreren Elementen: neben dem angesprochenen Bühnenbild zusätzlich aus einer Tanzperformance, dem Einspielen aktueller Nachrichtenbilder aus dem Kanal No Comment, einer Lesung aus dem Roman Europeana und der live gespielten Musik. Vor der Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle wurde die bild- und tongewaltige Inszenierung in der alten Bahnstation Mayfield in Manchester geprobt und präsentiert. Und damit sind wir beim Konzert in Moers: Der musikalische Teil der intermedialen Produktion Everything... erfährt beim Moers Festival eine Wiederaufführung – ein Begriff, der bis auf die beteiligten MusikerInnen und den musikalischen Grundansatz von improvisierter Musik und seiner spezifischen klanglichen Umsetzung von The Mayfield kaum dem Moerser Konzert gerecht werden kann. Ohne die genannten theatralischen und medialen Kontexte ist in Moers somit der musikalische Extrakt zu erleben – und der hat es in sich. Neben Heiner Goebbels am präparierten Flügel besteht The Mayfield aus folgenden MusikerInnen: Cécile Lartigau an den Ondes Martenot, dem Vorläufer der elektronischen Klangerzeugung aus den 1920er Jahren, der Perkussionistin Camille Emaille und Nicolas Perrin an seiner selbstgebauten Midi-Gitarre, verbunden mit unterschiedlichen Klangerzeugern. Gruppenmitglied Gianni Gebbia, sizilianischer Saxophonist, konnte leider am Moerser Konzert nicht teilnehmen. Die Klangreise beginnt mit dynamischen Kaskaden aus allen Instrumenten: Aus den Ondes Martenot sind Dauerläufe zu vernehmen, die Klaviersaiten werden mit Schlägeln traktiert, die Drums geben einen kräftigen Pulsschlag, die Gitarre steuert dem akustischen Kontinuum elektronische Klänge bei. Nach einiger Zeit lässt die Dynamik des furiosen Auftaktes allmählich nach, die MusikerInnen formieren sich zu einer neuen Phase. Dies ist überhaupt das Typische des Konzertes: ein Auf und Ab unterschiedlich dynamischer Sequenzen mit immer neuen klanglichen Wendungen. Beim Live-Stream nach dem Konzert erschließt sich dem Auge erst so recht, was das Ohr während des Konzertes als homogen wirkenden, differenzierten Klangraum mit seinen unterschiedlichen Szenen wahrnimmt: Der Materialeinsatz beim Klavier mit Glocken, Schlägeln, Papier, Fäden, Ketten, mit vielen anderen unterschiedlichen Gegenständen ist unerschöpflich. Heiner Goebbels spielt dazu Akkorde und Läufe an, einmal erklingen Trauermarsch-ähnliche Motive im tiefen Register, perkussive, vibrierende Sounds hallen in dem Resonanzraum des Konzertflügels. Ähnlich umfangreich ist das Arsenal von Camille Emaille: Neben unterschiedlichen Schlägeln erzeugt sie z.B. mit elektrischer Zahnbürste, Styropor und mit der eigenen Stimme klanglich und rhythmisch verblüffende Effekte und Akzente. Dazu „harmonieren“ die Glissandi von Cécile Lartigau aus den Ondes Martenot und die unterschiedlichsten elektronischen Sounds aus Nicolas Perrins Klangerzeugung. An der dynamischen Entwicklung der Sequenzen, an ihrer klanglichen Raffinesse arbeiten die MusikerInnen gemeinsam, eine privilegierte Rolle eines Instruments ist nicht auszumachen. Im Gegenteil: Zum Gesamtsound tragen alle MusikerInnen gleichberechtigt bei, ja, das Kreieren eines akustischen Raumes basiert auf der kollektiven Soundproduktion und einem offensichtlich von ähnlichen Klangvorstellungen geprägten Gestaltungswillen. Durch das Zusammenspiel und die sphärischen Klangfarben entsteht beim Zuhören ein Szenarium mit hoher imaginativer Kraft. Gerade bei der Schlusssequenz - eingeleitet durch Elektronik-Sounds, Sirenenklänge aus den Ondes und blitzartige Einsprengsel, allmählich zu einer hochenergetisch aufgeladenen Klangmasse verdichtet – tauchen beim Rezensenten Bilder des Finales von Everything That Happened And Would Happen auf. Aber auch ohne diese Bilder lässt die Musik von The Mayfield einen akustischen Raum mit hoher imaginativer Kraft entstehen - vielleicht weniger eine „experimentelle Hypnose“, wie Jacques Palminger in seiner Anmoderation die Musik beschreibt. Eher erzeugt die Klangreise eine intensive ästhetische Tiefenwirkung, eine fokussierte Aufmerksamkeit. In gewisser Weise korrespondiert die räumliche Ästhetik der Musik mit den Industriehallen ihrer Entstehung und Präsentation.

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