23 April 2004, Sabine Haupt, Neue Zürcher Zeitung
Review (de)

Schachtelsystem

Ein Canetti-Stück von Heiner Goebbels in Lausanne

Rätsel können aufklären, auch wenn sie ungelöst bleiben. Denn es ist die Arbeit am Geheimnis, das Setzen, Ent- und Versetzen von Sprach- und Tonzeichen, wodurch Dynamik entsteht. Erkenntnisse erwachsen aus dem Zusammenspiel von Momenten, nicht aus einer wie auch immer gearteten Gesamtbedeutung. Das neue, im Lausanner Théâtre de Vidy uraufgeführte Musik- Theaterstück von Heiner Goebbels signalisiert diese Einsicht schon in seinem unaussprechlichen Titel: "Eraritjaritjaka". Kein Zauberwort, sondern eine Redewendung südaustralischer Aborigines, die - so Elias Canettis eigene, aus seinen Aufzeichnungen "Die Fliegenpein" (1992) stammende Definition - eine obsessive Sehnsucht nach dem Verlorenen bezeichnet. Es geht um Trauer, um Melancholie, in deren Sog man augenblicklich durch ein vom Amsterdamer Mondrian Quartet mit äusserster Konzentration vorgetragenes Streichquartett von Schostakowitsch gerät. Eine schwarz gekleidete Figur betritt den Rand eines aus Licht geformten weissen Blattes - oder ist es die Oberfläche eines Spiegels, auf dem sich bald Schritte, Wörter und Töne abzeichnen? Wie ein Pendel wirft sie ihren Schatten in die Runde, schwingt im und gegen den Rhythmus der Musik. Licht, Körper und Stimme pendeln sich ein in den Klang der Streicher. Frappierend an dieser Szenerie (Bühnenbild: Klaus Grünberg) sind zunächst die streng geometrischen Linien, eine Topographie, in der Bewegung allein durch die Choreografie von Kontrasten entsteht; schwarz und weiss, positiv und negativ, oben und unten: Polaritäten, gehalten vom langen Atem der Töne. Auch diese jüngste Zusammenarbeit mit dem elsässischen Schauspieler André Wilms ist einem Verhängnis der Moderne auf der Spur: der alles bestimmenden, alles durchdringenden Ordnung. Während Wilms sich als Dirigent, Demagoge und Tierbändiger ins Spiel bringt, kommentieren Passagen aus Canettis "Masse und Macht" deren tyrannische, einem "Schachtelsystem der Geheimnisse" verpflichtete Gesetze und Partituren. Die Musiker und das Tier - eine roboterhafte Mutation aus Kanone und Pavian - gehorchen, doch nur für kurze Zeit. Dann ist der Wort-Dirigent wieder allein vor leeren Stühlen und imaginären Klängen. Ihm bleiben "nur diese Striche auf dem gelblichen Papier". Und nun beginnt der erstaunlichste Teil der gesamten Dramaturgie: Goebbels reisst die Wände ein, zieht seinen Darsteller weg von der Bühne, hinein in einen Strudel sich gegenseitig kommentierender Ebenen. Wilms nimmt Hut und Mantel und verlässt das Theater. Medienwechsel: Ein Vorhang öffnet sich, und das zuvor im Miniaturformat auf die Bühne gestellte Haus erscheint in voller Grösse. Zunächst als zweidimensionale Leinwand mit aufgemalten Fenstern, auf die das weitere Geschehen projiziert wird, später als riesenhafter Adventskalender, dessen Türchen sich allmählich öffnen und dabei den Blick in die Zimmer und auf den im Haus umherstreifenden Kameramann (Live-Video: Bruno Deville) freigeben. Dessen Beobachtungen führen uns hinter die Fassade. Wir betreten ein Geisterhaus, eine spleenige Parallelwelt, konkret: die Wohnung einer dem Sinologen Kien, jenem pedantischen Büchernarr aus Canettis Roman "Die Blendung", nachempfundenen Figur. Deren Alltag, in all seiner akkurat orchestrierten Kleinlichkeit, mit all seinen intimen Verrichtungen und Bewegungen, verrückt und verzerrt die Kamera nun zu monströser Überdeutlichkeit. Am Schreibtisch durchmessen die Bleistifte ihren abgezirkelten Spielraum, eine Schreibmaschine klimpert ein paar Takte, und in der Küche steigern sich Schneebesen und Pfeffermühle zum Crescendo. Der einsame Esser verschlingt seine eigenen Spuren, sauber, appetit- und rückstandslos. Fenster öffnen sich und verdoppeln das Bild, Frauen- und Kinderstimmen aus dem Off geistern durchs Haus: Wir sind mitten im Film, umgeben von Bild- und Wortassoziationen, geblendet von kontrapunktisch angeordneten Text- und Musikcollagen. Doch wo genau sind wir? Befinden wir uns in einer von Jean Cocteau halluzinierten Unterwelt, oder ist es die groteske Pedanterie eines Jacques Tati, die jede Bewegung in unheimliche Ferne rückt? Von der Bühne in den Film, vom Film zurück auf die Bühne: Figuren, Stimmen und Töne wechseln den Ort und das Medium, als sei die Grenzüberschreitung ihr eigentliches Ziel. Und alles geschieht mit wahrhaft somnambuler Leichtigkeit und Virtuosität, nichts ist vorhersehbar, doch alles völlig einleuchtend. Hätte das Wort "Genie" nicht einen so pompösen Unterton, hier wäre es durchaus mal am Platz.

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)