22 April 2004, Wolfgang Sandner, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Unaufgeräumte Memoiren eines Dachbodens-Klangmuseum der Sätze

"Eraritjaritjaka" von Heiner Goebbels nach Elias Canettis Aufzeichnungen am Théâtre Vidy in Lausanne uraufgeführt

Was ist ein Komponist? Wer der Etymologie vertraut, wird ihn als Zusammenfüger charakterisieren. Fragt sich nur, was er zusammenfügt. Für Thomas Manns Adrian Leverkühn war - auch wenn das die konservativen Musikfreunde ganz anders sehen - die Welt noch in Ordnung. Ein Komponist setzt eigene Werke aus den zwölf Tönen des temperierten Systems zusammen. John Cage war das zuwenig. Für ihn machte der Komponist das ganze klingende Universum hörbar. Aber seitdem La Monte Young einen Holzsplitter aus einem Bösendorfer-Flügel als "Klavierstück" ausgab, ist kompositorisch nichts mehr, wie es einmal war. Jetzt können Richard Wagner und Herr Bösendorfer zu Komponisten, der "Ring" und ein Konzertflügel gleichermaßen zu Gesamtkunstwerken erklärt werden. Aber vielleicht ist das ja gut so. Was ist ein Musiktheaterstück? Wenn man es historisch betrachtet, ist es ein Werk für die Bühne, in dem gesungen, gesprochen, gespielt und vielleicht auch getanzt wird. Für den Erfinder des musikalischen Dramas war das zuviel. Gesprochene Dialoge? Das gab es im vorrevolutionären Singspiel. Tanz? Das war nur welscher Tand. Die totale musikalische Dramatisierung mußte her. Aber da war noch zuviel überkommene Hierarchie vorhanden: Die Musiker unten im Orchestergraben spielten Instrumente, die Sänger oben sangen, der Dirigent auf erhöhtem Podest achtete darauf, daß nur das erklang, was der Komponist zuvor zusammengefügt hatte. Seit es das Instrumentale Theater und die antiautoritäre Bewegung auch in der Musik gibt, hat das ein Ende. Jetzt spielen die Sänger Instrumente, das Orchester sitzt auf der Bühne, der Dirigent greift trällernd ins Geschehen ein, und alle können nicht nur, sie müssen ihren kompositorischen Beitrag leisten. Was ist ein Künstler? Machen wir's kurz: nicht mehr nur der Erfinder schöner Dinge. Eklektizismus und Objet trouvé, Siebdruck und Playback, Zitat und die Theorie der offenen Form haben den Wert des Originals in Frage gestellt. Der Künstler unter der Kuppel des einundzwanzigsten Jahrhunderts ratlos? Durchaus nicht, sondern findig. Man kann Heiner Goebbels als einen Komponisten von Musiktheaterstücken bezeichnen. Auch als Künstler im Sinne des erweiterten Komponisten-Musiktheater-Künstler-Begriffs: Er setzt Töne und Wörter, Bilder, Bewegung und Licht zusammen, die nicht unbedingt von ihm stammen müssen. Er verbindet alles in einer von ihm ausgehenden, aber nicht auf ihn beschränkten Inszenierung. Er ist der moderne Zusammenfüger schlechthin. Und einer der anregendsten obendrein. Jetzt hat er für das Théâtre Vidy- Lausanne, an dem zuvor schon zwei andere Musiktheaterstücke von ihm - "Max Black" und "Hashirigaki" - herausgekommen waren, ein neues Werk geschrieben: "Eraritjaritjaka", ein "Museum für Sätze". Wer Werke von Heiner Goebbels kennt, wird auch dieses unschwer als von ihm stammend identifizieren können, auch wenn die Töne vorwiegend von Schostakowitsch und Ravel, von Gavin Bryars und George Crumb, von Johann Sebastian Bach, Giacinto Scelsi und Alexeij Mossolov stammen und die Texte bis hin zum kryptischen Titel aus der Sprache der Aborigines ausschließlich den Schriften von Elias Canetti entnommen wurden. Aber wie er das alles mit Hilfe seines Lieblingsschauspielers, des sprachvirtuosen Elsässers André Wilms, in Gesten umsetzt, wie er zwischen umfassender Optik und akustischen Zeichen sinnfällige Verbindungen schafft, das kennt man eigentlich nur von ihm, und es weist ihn eben wirklich als originellen Komponisten mit dem Material anderer aus. Und das geht so: Die vier Mitglieder des holländischen "Mondriaan Quartet" betreten in dunkler Kleidung die leere Bühne des Theaters und beginnen zu spielen, als sei man in einem Kammermusikabend. Nichts deutet auf ein kommendes Musiktheaterstück hin, alles auf ein ausgedehntes Streichquartettprogramm. Aber weil man auf Theater konditioniert ist, beginnt man die Bewegungen der vier Musiker auf ihre Dramaturgie hin zu beobachten. Man spürt, wie die musikalischen Phrasen sich in Armbewegungen fortsetzen, man sieht, wie die Kopfbewegung des ersten Geigers das melodische Thema an den zweiten Geiger weitergibt. Und plötzlich, im gleichschwingenden Rhythmus aller vier Instrumentalisten erkennt man auch den musikalischen Höhepunkt des Stückes. Wie Goebbels hier die Erwartungshaltung des Publikums nutzt, um etwas von der Struktur der Musik zu vermitteln, das erinnert an die unorthodoxen Ausstellungskonzepte von John Cage: Wenn eine griechische Vase mit Krieger- Darstellungen in eine Vitrine mit polynesischen Schrumpfköpfen gestellt wird, beginnt das Objekt ganz andere Geschichten zu erzählen als in einer Sammlung ausschließlich antiker Kunstgegenstände. Unvermittelt erheben sich die Musiker, nehmen ihre Stühle und treten in den Bühnenhintergrund. Aber die Musik, die sie gespielt haben, setzt sich als Tonbandzuspielung fort, wird geräuschhafter, immer heftiger, als würde Papier oder Stoff zerrissen. Mit dem Geräusch taucht eine erleuchtete Linie wie jene zur Markierung von Notausgängen in Flugzeugen auf, wird mit zunehmendem Geräusch allmählich breiter, als würde jemand gewaltsam die Dunkelheit auf dem Bühnenboden zerreißen, um sie in eine quadratische Lichtfläche zu verwandeln. Solche Wechselspiele zwischen optischen und akustischen Zeichen charakterisieren das ganze Stück. André Wilms beginnt französische Texte von Canetti zu sprechen und mit Bewegungen zu dramatisieren: Texte aus seinen umfangreichen Aufzeichnungen, aus dem Roman "Die Blendung" und aus dem Essay-Band "Masse und Macht"; Beobachtungen menschlichen Verhaltens, Canettis "minima corporalia", die auf groteske und zugleich unmittelbar einleuchtende Weise in Bilder verwandelt werden. Wenn etwa aus Canettis "Provinz des Menschen" jener eindrucksvolle Passus über das Verhältnis zu Tieren rezitiert wird, fährt ein kleiner, ferngesteuerter Roboter auf die Bühne, ein "elektrisches Insekt", wie es geradewegs aus George Crumbs Komposition "Black Angels" stammen könnte: "Immer wenn man ein Tier genau betrachtet, hat man das Gefühl, ein Mensch, der drin sitzt, macht sich über einen lustig." Heiner Goebbels, sein Lichtdesigner Klaus Grünberg, die für Kostüme verantwortliche Florence von Gerkan und Bruno Deville, für das Live-Video verantwortlich, gehen sparsam mit Requisiten und Zeichen um. Aber jede Aktion ist mit anderen Momenten der Darstellung so verknüpft, daß das Geschehen einen sogähnlichen Komplexitätsgrad bis zum Schwindel annimmt. André Wilms zieht etwa in der Mitte des eineinhalbstündigen, pausenlosen Stückes (nur mit Streichquartettbegleitung) seinen Mantel an und verläßt das Theater, gefolgt von der Video-Kamera, die seinen Gang durch den Vorraum des Theaters, die Fahrt mit dem Taxi durch Lausanne, schließlich seine Wohnung bis zum unaufgeräumten Dachboden filmt und auf ein auf der Bühne als Kulisse dienendes Haus projiziert. Das Theaterstück ist unvermutet zum Film geworden. Aber die Handlung scheint in "real time" abzulaufen, das Fernsehen in der Wohnung bringt die Nachrichten vom Dutroux-Prozeß, die Uhr zeigt dieselbe Stunde wie jene im Theater, Wilms reißt das Kalenderblatt des Tages ab. Da öffnet sich das Fenster des Hauses auf der Bühne, man sieht den leibhaftigen André Wilms, wie er Schreibmaschine schreibt, während das Video dieselbe Szene projiziert. Wo sind wir? Im Theater? Im Film? Was ist Wirklichkeit, was Fiktion? Bachs "Kunst der Fuge" als Begleitmusik zur Lichtspielszene macht das Verwirrspiel komplett. Goebbels versucht, das Geheimnis unserer Realität zu enziffern, ohne es zu lüften. Es ist ihm gelungen.

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)