18 September 2004, Hans-Jürgen Linke, Frankfurter Rundschau
Review (de)

Haus im Mensch

Mit Heiner Goebbels im Museum der Sätze, Bilder, Dinge und Klänge: "Eraritjaritjaka" im Schauspiel Frankfurt

Heiner Goebbels lebt in Frankfurt, hat einen Lehrstuhl am Studiengang für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und ist eigentlich Komponist. Ein Komponist allerdings, der seit je die landläufigen Grenzen des Musikbetriebs produktiv zu missachten versteht und die Rolle des Komponisten überaus eigenwillig interpretiert. Seine neueste Musiktheater-Produktion Eraritjaritjaka ist der dritte Teil einer Trilogie, deren erster "Ou bien le débarquement désastreux" (1993) und dessen zweiter "Max Black" (1998) war. Mitten im Buch sagt Kien den Satz "Aller Anfang ist schwer." Am Anfang aber spricht er mit dem neunjährigen Franz Metzger, "gegen seine Gewohnheit", denn gewöhnlich entwickelt Kien seine Gedanken monologisch. Wenn man jetzt nur einen griffigen Satz fände, den man wie einen Archimedischen Punkt in der Luft fixieren könnte. Einen Satz wie: In Heiner Goebbels' Eraritjaritjaka hängt Peter Kien aus Elias Canettis Roman Die Blendung dem Eigenleben seiner Gedanken nach, und dieses Eigenleben erscheint als Eigenschaft der Welt, in der sie gedacht werden. Viel zu kompliziert einerseits, andererseits viel zu wenig, man braucht mehrere solcher Sätze. Auf alle Fälle auch noch einen Satz wie: Heiner Goebbels' neue Produktion zeigt und geht davon aus, wie und dass alles, was in den Dunstkreis eines lebenden, denkenden Menschen gelangt, ein Eigenleben entfaltet und eine eigene Weise, sich mit anderem Eigenleben zu kombinieren. Und drittens: Heiner Goebbels Eraritjaritjaka, uraufgeführt im April in Lausanne und jetzt im Frankfurter Schauspiel erstmals in Deutschland zu sehen, ist ein Stück Musiktheater, in dem Musik, Licht, Video, Literatur und Bühnenausstattung mit der großen und unprätentiösen Stimm- und Schauspielkunst des André Wilms eine Verbindung eingehen, die mehr Fragen horizonterweiternd in die Welt setzt als sie desillusionierend beantwortet. Eigenleben also und Synthesen und Fragen: Worte verbinden sich zu Sätzen, die in Büchern gestanden haben und, wenn sie wiederkehren, ein Museum der Sätze bilden; Sätze beziehen sich in ihrem Museum nicht mehr auf die Welt, sondern aufeinander und auf ihren Leser. Die Zubereitung eines Omeletts - Eier aufschlagen, verquirlen, würzen, Zwiebeln hacken - verbindet sich mit Ravels Streichquartett zu einer erstaunlichen rhythmisch-klanglichen Einheit. Videokonserve und Live-Video verbinden sich mit dem Geschehen auf der Bühne zu einer raffinierten und beglückenden Täuschung des Zuschauers/Zuhörers, und die Täuschung ist keine selbstzweckhafte Protzerei mit Zaubertricks, sondern ein erkenntniskritisches Element: Sie intensiviert das Wirklichkeitsgefühl für das Bühnengeschehen und führt es zugleich ad absurdum. Aber der Reihe nach. Auf der Bühne spielt das Mondriaan Quartett Schostakowitschs achtes Streichquartett. Auf der Bühne ist André Wilms und spricht und beschäftigt sich zum Beispiel mit einem Rechteck aus Licht, das ein Teil von ihm selbst zu sein scheint. Auf der Bühne steht ein Haus, erst klein wie ein Spielzeug und ein sanftes Ruhekissen, später erscheint eine Haus-Vorderwand als Bühnenprospekt (natürlich denkt man, das wäre jetzt eine Vergrößerung des Hauses, das da so klein auf der Bühne steht, so funktioniert nun mal unser Wahrnehmungs- und Denkapparat) und wird als Projektionsleinwand benutzt; schließlich, gegen Ende, geht alles drinnen im Haus weiter und wird teilweise per Live-Video auf die Hauswand projiziert. Im Museum der Sätze findet sich dazu der Satz "In diesen neuen Städten kann man die alten Häuser nur noch in Menschen finden." Übrigens ist die Hausaußenwand natürlich nicht draußen, sondern drinnen, nämlich auf der Bühne, aber man gerät doch immer mal lächelnd etwas durcheinander: Ständig ahnt man mehr und denkt man etwas Anderes als man sieht. Später ist übrigens auch das Mondriaan Quartett im Haus. Also immer noch auf der Bühne, wo sonst. Mitten im Stück aber verlässt André Wilms Bühne und Theater und fährt - sagen wir vorsichtshalber: scheinbar - nach Hause, wo er sich weiterhin verhält, als sei er noch auf der Bühne. Man hat Gelegenheit zum Datums-, Uhren- und Zeitungsvergleich: korrekt. Er führt Peter Kiens Gespräch mit Franz Metzger. Es kommt zur Begegnung mit einer Stimme und schließlich zur Begegnung Peter Kiens (im Video) mit Peter Kien (im Haus, also auf der Bühne). Und um ein Haar wären auch wir Zuschauer auf der Hauswand zu uns selbst gekommen. Frei im Zwischenraum Eraritjaritjaka ist technisch staunenswert perfekt gearbeitet, ein Netz aus Assoziationen, Musik und Museumssätzen, das eine ganze Welt umfängt. Es ist inhaltlich hoch verdichtet, dabei aber voller Zwischenräume, durch die sich die Gedanken frei bewegen können. Es ist vielgestaltig und sinnlich und leicht und freundlich. Es gibt elektrische Tiere wie eine Mischung aus Roboter, Staubsauger und Scheinwerfer, und es gibt Kammermusik, die manchmal das einzige Bühnengeschehen bildet und manchmal dessen Hintergrund. Vor allem aber ist Eraritjaritjaka ein durch und durch persönliches Werk, dessen Privatheit durch technische Perfektion und die Allgemeingültigkeit des Herbeizitierten konterkariert wird. Auf das Eigenleben, das mit Hilfe unserer Wahrnehmungsarbeit zwischen diesen Komponenten entsteht, verlässt sich Heiner Goebbels' wunderbares Theater.

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)