18 September 2004, Harald Budweg, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Voller Verlangen: Heiner Goebbels' Musiktheaterwerk "Eraritjaritjaka" im Frankfurter Schauspiel

Die vier Mitglieder eines Streichquartetts betreten die Bühne, nehmen Platz, intonieren ein Stück. So beginnt gewöhnlich ein Konzert, so gestaltet sich zun‰chst auch Heiner Goebbels' neues Stück "Eraritjaritjaka". Auf dem Programm steht das Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110 von Dmitri Schostakowitsch - kein Werk der absoluten Musik, sondern ein politisch gefärbtes: Der russische Komponist hat seine 1960 konzipierte Musik "dem Gedächtnis der Opfer des Faschismus und des Krieges" gewidmet, doch wei� man im Falle Schostakowitschs nie so genau, ob er dabei nicht auch an die Verhältnisse in seinem Land gedacht hat. Die Musik klingt düster und gequält, im zweiten Satz auch aggressiv. Bei einer den Übergang vom zweiten zum dritten Satz markierenden Generalpause bricht die Musik ab. Die Musiker verschwinden im grauen Nebel des Bühnenhintergrunds, der zuletzt gespielte Akkord bleibt als Konserve im Raum stehen, wird elektronisch verfremdet, brüchig, schwillt zum ohrenbetäubenden Lärm eines Flugzeugtriebwerks. Schlie�lich betritt der Schauspieler Andre Wilms die noch immer fast leere B¸hne. So beginnt das neue Musiktheaterwerk "Eraritjaritjaka" von Heiner Goebbels, das im April in Lausanne uraufgeführt wurde und dessen deutsche Erstaufführung jetzt im Schauspiel Frankfurt zu erleben war. "Eraritjaritjaka" - der Titel ist dem Wortschatz der Aborigines entnommen und bedeutet "voller Verlangen nach etwas Verlorengegangenem" - ist Schlußstück einer Trilogie über die Wahrnehmung und Weltaneignung des einzelnen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Teilen - "Ou bien le debarquement desas-treux" (1993) und "Max Black" (1998) - stehen diesmal Texte von Elias Canetti im Werkzentrum: Überwiegend dessen Aufzeichnungen der Jahre 1942 bis 1993, aber auch Passagen aus dem Roman "Die Blendung" und aus Canettis Hauptwerk "Masse und Macht". Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein längeres Textzitat ¸ber das autoritative Verhalten von Dirigenten. Da wird Goebbels' Konzert, Schauspiel und Film zu einem Gesamtkunstwerk einigendes "Musee des phrases" (so der Untertitel) zur Sternstunde einer elaborierten Theaterkunst, von Wilms markant rezitiert und als eindringlicher Bühnenmonolog gestaltet. Hier schweigen die Instrumentalisten des Mondriaan Quartet Amsterdam, die an diesem Abend noch vielfältige Aufgaben zu bew‰ltigen haben: Werke von Mossolow, Scelsi, Oswald, Lobanow, Gavin Bryars, das gesamte F-Dur-Quartett von Ravel, einige "Black Angels" von Crumb und ein Contrapunctus aus Bachs Opus summum "Die Kunst der Fuge" BWV 1080. "Eraritjaritjaka" beeindruckt auch in Frankfurt als ein Werk subtiler Komplexität, dessen heikle Balance zwischen Musik, Sprechtheater und Cinema Kontraste nicht einebnet, sondern im Gegenteil verst‰rkt, weil auch Hierarchien innerhalb der Genre-Vermischung nicht ausgeblendet, sondern mit st‰ndig wechselnden Akzenten ins Feld gef¸hrt werden. Da� die Vorstellung als Konzert beginnt und als Film endet, ist nur die halbe Wahrheit, denn zum einen gelingen Goebbels dank atemraubender Verfremdungseffekte allerlei optische Täuschungen, wenn er seinen Schauspieler, verfolgt von einer Live-Kamera, aus dem Theater heraus in seine Wohnung verschwinden l‰�t. Sp‰ter n‰mlich kehrt Wilms doppelt auf die B¸hne zur¸ck: gefilmt in seiner Wohnung, leibhaftig durch das Fenster eines Kulissenhauses auf der B¸hne, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Aber auch die Musik l‰uft weder nebenher, noch dient sie einer nur abbildenden Verdoppelung. Vielmehr ist es Goebbels gelungen, den Gestus der musikalischen Aussage mit Canettis pointierter Gedankenschwere und der schauspielerischen Leistung in einen h�heren geistigen Zusammenhang zu bringen. Wenn Wilms im Film zum tröpfelnden Pizzicato des Ravel-Scherzos rhythmisch korrespondierend Zwiebeln schnipselt, so markiert das den in diesem St¸ck eher raren Moment eines "befreienden" Humors. Schmunzeln kann man sicher auch ¸ber zugespitzte Formulierungen einiger Canetti-Texte - insgesamt jedoch liegt ein melancholischer Zauber ¸ber dem Abend, der momentweise auch bleiern wird. "Eraritjaritjaka" ist zweifellos eine Produktion von beeindruckender Schlüssigkeit, besitzt allerdings nicht den opulenten Erlebniswert von Goebbels' Stück "Landschaft mit entfernten Verwandten", das die Besucher des Schauspiels zum vergangenen Jahreswechsel so begeistert hatte. HARALD BUDWEG

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)