2 December 2004, Nina Tabassomi, kulturberlin.de
Review (de)

Die Täuschungsanstalt

Heiner Goebbels Inszenierung Eraritjaritjaka, die im Rahmen der spielzeiteuropa gezeigt wurde, verschob den Theaterraum. Die Situation oder: How 2 go on? Unlängst fragte der französische Choreograph Jérôme Bel in The show must go on 2 , wie es mit dem Theater weitergehen könnte: HOW 2 GO ON? Und nach ausgedehnter Bedenkzeit endete die Performance mit einem desillusionierten ENOUGH. Das macht Theatergänger betroffen. Sie haben sich schon oft gefragt, was jetzt eigentlich noch kommen soll. Hat man doch häufig das Gefühl, dass die Aufführungen, die man besucht, bei all ihrer Qualität vorhersehbar geworden sind. Jérôme Bel gelingt es paradoxerweise, mit seinem Abgesang auf das Theater eine neue Art von Tragödie zu erschaffen und somit unseren Erwartungshorizont zu durchbrechen. Rehabilitierung des Theaters - einen Weg "2 GO ON" zeigte jetzt auch Heiner Goebbels Inszenierung Eraritjaritjaka , die in der spielzeiteuropa zu sehen war. Auch er variiert eine historisch immer wieder valorisierte Möglichkeit des Theaters. Die Projekte Das titelgebende Wort Eraritjaritjaka hat Goebbels von Elias Canetti übernommen, aus dessen Werk sich die verbalsprachliche Ebene der Aufführung zusammensetzt. Auf dieser werden Macht- und Unterwerfungsstrukturen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Konstellationen abgehandelt und sezierende Blicke auf den Alltag geworfen. Schauspieler André Wilms, der mit Goebbels schon die beiden vorangegangenen Teile der Trilogie bestritten hat, spricht Bruchstücke aus Masse und Macht , Die Blendung und anderen Werken Canettis – installiert mit ihnen ein musée des phrases . Teilweise schlüpft er in die Rolle des Professor Kien (aus Die Blendung doch größtenteils bleibt er ausgestellt als Rezitator. Verwoben mit dem Canetti-Projekt Eraritjaritjaka wird das Theaterprojekt Eraritjaritjaka . Das rätselhafte Wort bedeutet in Aranda (Sprache australischer Ureinwohner) "voller Verlangen nach etwas, was verloren gegangen ist". Dieses Verlangen kann man in dieser Inszenierung auch als ein theatrales Begehren verstehen. Der Bruch Anfangs hat noch alles seine traditionelle Ordnung auf der Bühne: ein Streicherquartett (Mondriaan Quartett), ein Schauspieler, Lichtinstallationen und eine Reihe von Objekten. Darunter ein kleines würfelförmiges Haus, das über die Bühne purzelt, auf dem Kopf stehend zu Ruhe kommt und in dem kurz ein Licht angeht. Diese Vorwegnahme des kommenden Abends kann der Zuschauer in diesem Moment wohl noch nicht lesen. Erkennen konnte er nur, dass es sich bei der zweidimensionalen weißen Hausfassade, die am hinteren Bühnenrand kurz darauf zu sehen war, um eine Vergrößerung des kleinen Hauses handelte. Dann wird André Wilms nach kurzer Spielzeit von einem Kameramann abgeholt. Eilig setzt er seinen Hut auf und verläßt die Bühne und auch gleich das Haus der Berliner Festspiele. Die Kamera folgt unserem Protagonisten, die Hausfassade auf der Bühne wird zum Videoscreen. Wir sehen Wilms auf der Rückbank eines Autos durch das abendliche Charlottenburg fahren, einen Fahrstuhl besteigen und schließlich in einer Wohnung ankommen, wobei die Kamera – und damit wir – ihm weiterhin folgen. Dort kocht und ißt er in der Küche, arbeitet am Schreibtisch, schaut fern im Wohnzimmer und sinniert auf dem Dachstuhl. Erstaunlicherweise agiert André Wilms teilweise synchron zur Musik, obwohl er sie doch gar nicht hört, hackt er beispielsweise Zwiebeln in ihrem Rhythmus Die Illusion Unweigerlich hat eine Parallelhandlung in unseren Köpfen ihren Lauf genommen: Man versucht, das Gesehene bewusst einzuordnen, wird dazu angehalten, über die conditio theatri zu reflektieren: Was bedeutet es, dass die Ko-Präsenz von Schauspieler und Zuschauer im Theatersaal unterwandert wird? Reicht uns die mediale Kopie? Können wir uns überhaupt darauf verlassen, dass wir wenigstens die Zeit mit Wilms teilen? Die Uhr in seiner Küche steht zwar auf 21 Uhr und die Fersehnachrichten sind aktuell. Aber ist dies ausreichender Beweis dafür, dass wir es mit einer Live-Übertragung zu tun haben? Herr Wilms wird doch wohl noch zurückkommen. Aber schafft er dies überhaupt noch, wenn die Aufführung um 21.30 Uhr endet? Und es wäre ja wirklich radikal, wenn der einfach gar nicht mehr zurückkehrt und wir hier alleine im Theater... Dann die Auflösung: In den Fenstern des Hausfassade werden die Vorhänge beiseite gezogen. Wir sehen André Wilms durch das Fenster: Er war in keiner Wohnung außerhalb des Theaters. Er war vor uns. Die ganze Zeit? Die Fassade, die uns als Leinwand an dem Bühnengeschehen teilnehmen ließ, trennte uns gleichzeitig von diesem. Die Projektion, die uns eine innerhäusliche Perspektive verschafft, kollidiert am Ende des Abends mit unserem Blick von Außen auf die erleuchteten Fenster. Heiner Goebbels hat uns an der Nase herum geführt. Er hat eine veritable Illusionsbühne installiert. Die klassische Illusionsbühne errichtete die so genannte vierte Wand zwischen Darstellern und Zuschauern: Das wie der Nachahmung sollte zu Gunsten des als ob für die Zuschauer so unsichtbar wie möglich gestaltet sein. In Eraritjaritjaka wird diese vierte Wand materialisiert in der Hausfassade als Leinwand: Wir sehen Professor Kien in seiner Wohnung. Diese Radikalisierung der vierten Wand hält uns aber gerade dazu an, unablässig die realen Koordinaten der Aufführung zu befragen, ja diese rücken ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Die Materialisierung der vierten Wand (das als ob ) führt in ihrer Zuspitzung gerade dazu, das wie der Aufführung zu reflektieren. Dieses Paradox wird im zeitgenössischen Theater häufig variiert. Unsere Erwartungen werden in Eraritjaritjaka an einem anderen Punkt unterwandert. Indem wir nämlich viele Fragen an die Theatersituation stellen und uns jeder theatralen Scheinwelt enthoben fühlen, unterliegen wir de facto doch einer solchen. Denn an einem haben wohl die Wenigsten gezweifelt: dass sich André Wilms den Großteil der Aufführung fern von uns in einer realen Wohnung aufhält. Aber auch nach der Auflösung bleiben Rätsel. So richtig vorstellen kann man sich noch immer nicht, dass diese zweidimensionale Wand tatsächlich ein Innenleben hat. Aber eines wissen wir jetzt genau, dass Theater Illusionsräume schaffen kann, an die wir aufgeklärten Theatergänger für gewöhnlich nicht glauben. Der Ausgang oder: The show is going on! Was Jérôme Bel und Heiner Goebbels gemeinsam ist: sie greifen zurück auf alte Theaterpattern, die wir schon lange nicht mehr als theatrale Archetypen gelten lassen wollen: Klar gibt es Tragödie und Illusionsbühne noch, aber ihre Wirkkraft auf dem Theater haben sie eingebüßt. Heute bedient eher das Melodram die Anforderung nach kathartischer Tragödie und die damit zusammenhängende Forderung nach Illusion. Was Bel und Goebbels tun, ist, dass sie das genre-setting nicht bedienen. Sie zitieren es auch nicht als parodistische Geste herbei, sondern beleben es über einen Umweg: Sie stürzen den Zuschauer in seine Reflexionswelt, indem sie ihm keinen Wegweiser durch das Gezeigte mitliefern. Und lassen ihn am Ende dort rauskommen, wo er sich am wenigsten wähnte: von THE SHOW MUST GO ON 2 hin zu HOW 2 GO ON, SOME TOUGHTS, ENOUGH, vom Lachen zum Betroffensein. Beziehungsweise von der "realen" Wohnung somewhere in Charlottenburg zum Container auf der Bühne: von der fiktiven Realität außerhalb des Theaters zur realen Fiktion auf dem Theater in Eraritjaritjaka. NINA TABASSOMI

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)