16 November 2004, Cornelia Jentzsch, Märkische Oderzeitung
Review (de)

Eraritjaritjaka von Heiner Goebbels

Nur was die Öffentlichkeit als Ganzes betrifft, schrieb Elias Canetti, scheine ihm auf dem Theater darstellenswert. Der Komponist Heiner Goebbels hat Canetti nicht nur beim Wort genommen und ein Musiktheaterstück nach dieser Maßgabe geschneidert, sondern auch gleich die Worte des Nobelpreisträgers als textliche Grundlage für seine Stück verwendet. Herausgekommen ist ein wunderbar öffentliches, weil sehr privates Stück. Es ist mehr als nur ein in Szene gesetzter Monolog eines einzelnen Schauspielers, André Wilms; mehr als nur ein Museum der Sätze, wie der Untertitel lautet. Der Titel des neuen Stückes ist so verworren wie einem das Leben manchmal erscheint: Eraritjaritjaka. Aufgelöst bedeutet das aus der Sprache der Aborigines stammende Wort: Voller Verlangen nach etwas, was verloren gegangen ist. Musik von Schostakowitsch, Mossolov, Bach, Ravel, Scelsi, Crumb, Bryars und Goebbels selbst, gespielt vom Amsterdamer Mondriaan-Quartett, versetzte dieses nicht zu greifenden Verlangen in einen schwebend adäquaten Raumton. Am Wochenende war das Musiktheaterstück an drei Abenden im Haus der Berliner Festspiele zu sehen, der Publikumsandrang war wie der Beifall groß. In Eraritjaritjaka geht es um die Wahrnehmung der Welt und den Versuch, das Wahrgenommene zusammenzufassen. Zunächst einmal in Sprache, geordnet durch das Denken. Elias Canetti liefert dafür mit seiner an Karl Krauss geschulten Ironie, Bissigkeit und Klarsicht eine hervorragende Textur. Er wurde vor allem durch seine mehrbändige Autobiographie, den Roman "Die Blendung" und sein philosophisches Werk "Masse und Macht" bekannt. Heiner Goebbels zog aus daraus eine Quersumme aphoristischer Sentenzen, die hinter dem Sichtbaren vor allem das unsichtbar Makabre als eigentlichen Kitt der Welt hervorschimmern lassen. Die Stimme Canettis spricht aus dem Mund von André Wilms über "Sätze, die sich voreinander drücken". Sie erzählt, daß man bei Tieren stets das Gefühl habe, ein Mensch, der drin sitzt, mache sich über einen lustig. Sie entwirft die Vision einer Gesellschaft, in der die Menschen nach belieben alt oder jung sein könnten und immer damit abwechselten... Läßt sich eine solche mehrdimensionale Welt in die verkleinerte Form einer auf drei Wände begrenzten Bühne bringen? Schon, wenn man wie Goebbels die Komponenten Raum, Text, Musik und Video konsequent nutzt, indem man sie um sich selbst erweitert und zentriert. Das Utopische liege in der Form, beruft sich Heiner Goebbels auf Heiner Müller. Der Kosmos des Denkens ist eine Welt hinter der Welt. Diese immense Verschachtelung hat Goebbels wunderbar in Szene gesetzt, vielleicht sogar noch konsequenter als in den beiden vorangegangenen Stücken seiner Trilogie (Oder die glücklose Landung, Max Black, Eraritjaritjaka). Die logische Wahrnehmung der Welt wird mit verblüffend einfachen (Bühnen-)Mitteln mit ihrer sinnlich akustischen und optischen verschränkt. André Wilms teilt nicht nur Sätze mit, sondern teilt parallel dazu Zwiebeln. Das Tacken des Messers auf dem Brett wiederum gibt den Rhythmus der Musik. Die Musiker spielen nicht nur auf den Instrumenten, sondern gleichzeitig als Schauspieler auf der Bühne. Andre Wilms ist in diesem Moment aber schon lange nicht mehr auf dieser. Er hat das Theater verlassen und ist mit dem Taxi über den Kudamm nach Hause gefahren, wo er sich in der Küche das Abendbrot bereitet. Verfolgt von Bruno Deville, der ihn mit einer Videokamera zurück auf den Bühnenhintergrund projiziert. Der Hintergrund hat die Silhouette eines Hauses. Wenn schließlich das Licht in seinen Fenstern angeht, sieht man dahinter den Protagonisten leibhaftig schon längst wieder auf der Bühne sitzen, mit ihm der Videokünstler und die Musiker. Der ganze Abend ist voll solcher Kippbilder. Streichinstrumententöne steigern sich in die Motorgeräusche eines startenden Flugzeuges, aus kleinen Lichtpunkten am Bühnenboden schälen sich die Lichtsignale einer Startbahn und der sie umgebenden Stadt. Luftiger und aberwitziger kann man das Phänomen der Welt und ihrer Wahrnehmung fast nicht auf die Bühne stellen als Heiner Goebbels in Eraritjaritjaka. Canetti hätte seine wahrnehmende Freude dran gehabt.

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)