8 October 2007, Martin Wilkening, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Der unaufhaltsame Gang

Heiner Goebbels vertont in Berlin "Stifters Dinge"

Die Erfahrung des Fremden beginnt nicht erst beim Aufbruch zu solchen Expeditionen, von denen die flatternden Stoffbahnen und die Südseegesänge am Anfang von Heiner Goebbels neuem Stück "Stifters Dinge" erzählen. Das Fremde liegt uns vielmehr ständig im Blick, vor allem in der Begegnung mit den Dingen der Natur. Davon und von der Eroberungslust trotz einer "Furcht, in das Ding hineinzufahren", die Adalbert Stifter in seiner Erzählung "Die Mappe meines Urgroßvaters" mit Detailversessenheit beschreibt, handelt Goebbels menschenleeres Bühnenspiel, das nach der Schweizer Uraufführung jetzt vom Haus der Berliner Festspiele aus auf Tournee geht mit Stationen in Luxemburg, Frankfurt und München. Zwei Bühnenarbeiter, die zu Beginn den Expeditionsraum zu dem Modell einer Stifterschen Schneelandschaft herrichten, sind die einzigen Darsteller in einem Raum, der, gesteuert von einem verborgenen High-Tech-Weltenlenker, seine Erzählung aus Licht, tönenden und stummen, beweglichen und starren Objekten und einer Montage aus Projektionen, Stimmen und Geräuschen entwickelt. Siebzig Minuten dauert dieser Prozess, und diese weise Beschränkung hilft, einen Beziehungszauber zu entfalten, der die Schönheit und den Eigenwert der einzelnen erzählerischen Elemente ausstellt. Da wirkt Goebbels Ästhetik geradezu klassischem Kompositionsdenken verpflichtet, und man spürt nur hier, in dieser Art von Kombinatorik, dass dieses geamtkunstwerkelnde Theater von der Musik her gedacht ist, einer Musik, die sich ansonsten mit sparsamen Gesten einfügt in die hierarchiefreie Ordnung dieser Musiktheaterwelt. Es ist allerdings kein reines Spiel tönend und nicht tönend bewegter Formen, das Augen- und Ohrenlust hier gleichermaßen zu fesseln vermag. "Time has changed" verkündet aus dem Lautsprecher die Stimme des afroamerikanischen Bürgerrechtlers MalcolmX und prallt in ihrer revolutionären Gewissheit auf die erschreckende Lakonie von Claude Lévi-Strauss, der in einem Interview bekennt, absolut kein Vertrauen mehr in den Menschen zu haben. Da ist das schnarrende Ticken, das zu Beginn so mahnend insistierte, längst abgelaufen, denn wir sind schon jenseits, am Ende der Zeit, und nun wird richtig Musik gemacht. Die Szene hat sich, etwa in der Mitte des Stückes, vom Hintergrund aus nach vorne geschoben, ein seltsames Installationsgestrüpp aus Klavieren, Perkussionsinstrumenten und kahlen Bäumchen. Dies ist die theatralische Verwandlung des Stifterschen Eiswaldes mit seinen Todesdrohungen, von dem zuvor zu hören war. Derart mit Bedeutung aufgeladen, gewinnt nicht nur jeder Ton, sondern auch jeder Augenblick der Stille gewaltiges Potential, und die eigentlich kurze Dauer spannt sich zu epischer Weite mit Stationen endloser Melancholie. Bilder brodelnder Urmaterie und ein zaghaftes Anknüpfen an den tickenden Anfangspuls inmitten einer musikalischen Trümmerlandschaft signalisieren am Schluss die Möglichkeit eines Neubeginns, begleitet von musikethnologisch dokumentierten Aufnahmen archaischer Gesänge, die allerdings gegenüber den anderen Tondokumenten verdinglicht, arabeskenhaft erscheinen. MARTIN WILKENING

on: Stifters Dinge (Music Theatre)