29 November 1994, Helmut Mauro, Süddeutsche Zeitung
Review (de)

Antiken Avantgarde

Die Befreiung des Prometheus: eine musikalische Dramatisierung

Manchmal klingt es, als versuchte ein Betrunkener unter der Dusche seine Lieblingsarien zu trillern. Belcanto-Bruchstücke, Röcheln, Schreien, dazu Regenrauschen, Trommelwirbeln, Beckenschlagen. David Moss ist ein Stimm-Schlag- Geräusch-Akrobat, ein musikalisches Kraftpaket, das auch an diesem Abend im Marstall jede Menge Überraschungen parat hatte - zusammen, mit André Wilms als Sprecher und Heiner Goebbels an Klavier und Sampler in dessen musikalischer Dramatisierung von Heiner Müllers Die Befreiung des Prometheus. So absurd, so Überzogen die Details in der griechischen Sage auch sein mögen, Heiner Müller überdreht sie noch einmal in phantastisch groteske Bilder. Prometheus, dessen Ketten mit Haut und Fels verwachsen sind, wehrt sich gegen seine Befreiung nach dreitausend Jahren, und nur mit Mühe gelingt es Herakles, ihn aus dem Gebirge zu reißen. Zu sehr hat sich der Verräter an seine Fesseln gewöhnt, an den täglichen Schmerz, wehrlos zu sein gegen die Mächtigen. Die Parabel ist klar, fast zu eindeutig. Vor über zwanzig Jahren schrieb Heiner Müller diese zwei Seiten 'Gelegenheitsarbeit', die in ihrer bösen Ironie etwa an Brechts Beschreibung einer 'Verwundung des Sokrates' erinnert. Müller aber interessierte nicht nur die Geschichte des Prometheus, sondern vor allem deren Überlieferung. All die inhaltlichen Ungereimtheiten, die in den meisten Übersetzungen mehr oder weniger geschickt übergangen werden. Müller sieht in der brüchigen Logik des Originals und der vorwilhelminischen Übersetzungen den Beleg dafür, daß die Geschichte kein konsumierbarer Text ist, sondern ein Erzählprozeß, dessen Widersprüche den Kreis der Bedeutungen offen hält. Der Musiker und Performancekünstler Heiner Goebbels griff nun die von Müller postulierte Tradition auf und gestaltete ein 'Szenisches Konzert', wobei die deutsch und französisch vorgetragenen Textabschnitte auf musikalischer Ebene fortgesponnen wurden. Dabei herausgekommen ist eine theatralische, eher musikästhetisch denn politisch spannende Begegnung mit 'avantgardistischer Antike'.

on: Die Befreiung des Prometheus (Music Theatre)