19 November 2010, Bettina Schulte, Badische Zeitung
Review (de)

Hommage an die menschenfernen Dinge

Heiner Goebbels’ für den SWR produziertes Hörstück "Stifters Dinge" ist eine Reise in die Fremde.

Vielleicht kann man Heiner Goebbels’ neues Hörstück als den Versuch beschreiben, einen Naturklangraum zu erzeugen. Aber – das wäre bei diesem Erkunder der experimentellen Möglichkeiten der akustischen Kunst auch nicht zu erwarten – nicht mit natürlichen Mitteln. Auch wenn das die "Besetzungsliste" von "Stifters Dinge" nahelegen könnte. Danach treten auf: fünf mechanische Klaviere, Wasser, Nebel, Regen, Steine, Stimmen und ein Text von Adalbert Stifter. Die Stimmen stammen aus Papua Guinea, Südamerika und Griechenland. Und von Claude Levi-Strauss, dem großen Ethnologen, von Malcolm X, dem Aktivisten der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, und dem Schriftsteller William S. Borroughs. Vor drei Jahren wurde "Stifters Dinge" als "performative Installation" im Théatre Vidy in Lausanne uraufgeführt. Auf der ansonsten leeren Bühne waren fünf Klaviere zu einer bizarren Maschine ineinandergestapelt. Menschen traten nicht auf: Trotzdem oder gerade deswegen entwickelte Goebbels’ furiose Collage einen intensiven Sog. Das lässt sich in der vom Regisseur für den SWR eingerichteten akustischen Realisierung gut nachvollziehen. "Stifters Dinge" öffnet einen tatsächlich weltumspannenden Assoziationsraum – wenn man sich darauf einlässt, die unverbundenen, heterogenen Teile dieser Hommage an die menschenfernen Dinge ohne Verstehenszwang auf sich wirken zu lassen. Es ist ein reiches Material, das der mit seiner Arbeit alle Genregrenzen sprengende Komponist, Theater- und Hörspielmacher, der ab 2012 die Leitung der Ruhrtriennale übernehmen wird, um den Kern seines Hörstücks anordnet: die Beschwörungsformeln des Südostwinds in Papua Guinea, der Wechselgesang kolumbianischer Indianer, leise rauschender Regen, wie man ihn so aufrmerksam womöglich noch nie wahrgenommen hat, ein von Bachs Italienischem Konzert umschmeicheltes Interview mit Levi-Strauss – und dabei geht es immer wieder um die sehr unromantische Erfahrung der nicht vereinnahmbaren Fremdheit der Dinge – wie es bei Stifter heißt: "Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute." Der Satz leitet die berühmte Eisgeschichte aus der "Mappe meines Urgroßvaters" ein, die Hermann Josef Mohr dreizehn Minuten lang mit einer gleichmütigen Unbeteiligtheit liest, die das Faszinosum dieses detailreich geschilderten Ausflugs in eine winterlich gefrorene menschenleere Landschaft umso größer macht. Goebbels versteht die Texte des zu Unrecht als biedermeierlich abgetanen österreichischen Autors als radikal modernen Beitrag zu einer Entschleunigung der Wahrnehmung. "Das Rauschen, welches wir früher in den Lüften gehört hatten, war uns jetzt bekannt; es war nicht in den Lüften, jetzt war es bei uns." Beim gemeinsamen Gang von Stifter und Goebbels durch den vom fallenden Eis unheimlich knackenden Wald wird einem bewusst, dass der Mensch nicht das Maß der Dinge ist. Wem außer Heiner Goebbels gelingen solch eindringliche akustische Suggestionen? – Ursendung: SWR 2, heute 22.03 Uhr.

on: Stifters Dinge (Music Theatre)